Und alles ist endlich gut
Der Schriftsteller Albert Ostermaier über Bayerns Tragödie, das Orakel von Delphi, Zweifel im Knöchel und den Hampelmann im Torwart
ND: Albert Ostermaier, in welcher Gemütsverfassung sind Sie gegenwärtig - als Bayern-München-Mitglied Nummer 40 838?
Ostermaier: Mein Möglichkeitssinn wehrt sich immer noch gegen die Unmöglichkeit dieser traumatischen Niederlage. Seit Barcelona '99 dachte ich: Schlimmer kann es nicht kommen. Aber im Fußball kommt es immer schlimmer und der Ball nie aus der Richtung, aus der man ihn erwartet hat. Zuerst war ich nur in Schockstarre, zu Tode betrübt, aber jetzt himmelhochwütend, denn es war die unnötigste Niederlage der Vereinsgeschichte.
Wäre der Fußball ein Entwicklungsroman oder schriebe man seine Geschichte wie eine Biografie - wie es ja auch eine Biografie von Gott gibt: Wie hat sich dieses Wesen Fußball, seit es zu Ihrem Leben gehört, verändert? Beschreiben Sie den Wandel.
Fußball ist kein Entwicklungsroman, Fußball ist die Fortschreibung der Kindheit. Er verändert sich nicht, nur der eigene Körper, also die Knochen, die leichter brechen, und die zweite Luft, die fehlt. Fußball bleibt Fußball, was auch immer passiert, deshalb lieben wir ihn, er bleibt sich in der Veränderung treu. Was sich ändert bzw. was zunimmt, sind die Übergriffe und der beispiellose Missbrauch der Institutionen, diese permanente Usurpation der Freude am Spiel und der Leidenschaft. Mit einer überdachten WM in Katar hat das Wesen Fußball endgültig einen Dachschaden. Mit Fußball wird immer Geld gemacht werden, aber Geld kann nicht das Spiel machen; sehr wohl es aber verderben. Es ist kindisch, sich Fußball als kapitalismusbefreiten Raum vorzustellen, aber man kann die WM in Deutschland und die tolle soziale, kulturpolitische und antidiskrematorische Arbeit des DFB mit der FIFA konterkarieren, die alles das pervertiert, wofür der Fußball steht.
In «Dantons Tod« hilft ein Bürger dem anderen über die Pfütze. «Man muss mit Vorsicht auftreten.«Es könnte die «dünne Kruste« der Erde brechen und sich der alles verschlingende Abgrund auftun. Was bedeutet diese Szene, was bedeutet diese Fantasie für den Fußballrasen?
Büchner ist der Messi der deutschen Dramatik, jede Bewegung ist ebenso brüchig wie formvollendet, es sind Traumpässe in die Tiefe des Seelenraums. Ein genialer Spieler läuft immer auf dünnen Eis, er weiß um seinen Körper, jede Bewegung weiß um die Gefährdung. Er ist immer vorbereitet auf die Risse im Eis und weiß, dass er schneller sein muss. Man kann auf Eis wie ein Tänzer glänzen, aber auch elendig einbrechen und mit den Armen um sein Leben rudern. Das Schöne, zugleich Bittere ist: Beides kann von einem Augenblick zum nächsten passieren.
Der Sieger siegt, der Verlierer macht Erfahrungen. Erhebt diese Behauptung, die ich als wahr bezeichnen will, Schweinsteiger über Drogba?
Über Drogba kann man sich nicht erheben, weil er immer am höchsten springt, leider. Er hat aus seinen Erfahrungen als Verlierer gelernt, hat ja auch mit Chelsea und der Elfenbeinküste Finale verloren und auch Elfmeter verschossen. Er hat gelernt, Geduld zu haben, er hat dieses unerschütterliche Vertrauen, dass sein Moment kommen wird, Geschichte zu machen. Er hatte nicht mehr zu verlieren, und deshalb hat er nicht verloren. Schweinsteiger hat nur im roten Bereich gespielt, über seine Grenzen hinaus gespielt und dann im entscheidenden Augenblick im Anlauf verzögert. Der Sekundenbruchteil Zweifel im Knöchel hat ihn vom Helden zum Verlierer gemacht. Diese Erfahrung wird er sicherlich nicht wiederholen wollen. Allein für ihn und für Lahm müssen die Deutschen diesen Titel bei der EM holen.
Nehmen wir an, Schweinsteiger benötigte Trost. Welches Buch sollte er lesen?
Proust: «Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Aber alle Bände.
FIFA-Blatter lässt das Elfmeterschießen diskutieren. Was sagen Sie als Dramatiker zu so was?
Muss man Blatter diskutieren? Das Elfmeterschießen ist die absolute dramatische Zuspitzung, sie verwandelt den Rasen in den Wilden Westen, High Noon. Oder anders: Erst brennt der Rasen, dann wird es Schach. Das Elfmeterschießen beginnt ja schon mit der Verlängerung. Es ist ungerecht, aber wird allem, was Fußball ist, absolut gerecht. Als Torwart liebe ich das Elfmeterschießen. Lieber sollte Blatter sich selbst abschaffen.
Herr Ostermaier, wenn Sie öffentlich über Kunst nachdenken - immer ist da die Spannung spürbar zwischen Körper und Gedanken, zwischen Schweiß- und Geisttropfen, zwischen den Sehnen und dem Sehnen. Kampf, verschlungene Sinnlichkeit, Schöpfung und Erschöpfung. Sie schreiben sich die Seele IN den Leib, der dann mit deren Fantasieflügeln aus seiner eigenen Haut fährt. Sind Sie süchtig nach Überforderung? Wie würden Sie dieses Magnetfeld zwischen Sportsgeist und Geistessport beschreiben?
Sprache ist für mich immer Sprachkörper. Sprache muss unter die Haut gehen, sie muss sinnlich sein, verletzbar. Man liest beim Boxen seinen Gegner. Das kann man das aber erst, wenn man sich des eigenen Körpers, seiner Grenzen, seiner Abgründe bewusst ist. Sprache ist, wie Sport, eine Grenzerfahrung durch Grenzüberschreitung. Nach dem Schreiben fühle ich mich wie nach dem Fußballspielen, und in beidem fühle ich mich ganz bei mir selbst. Auch vom Theater kann man Muskelkater bekommen, und Blutgrätschen gehören dort eh zum Spielbetrieb.
Welche spezielle Eitelkeit treibt einen Torwart?
Die Eitelkeit, wenn er alles hält, zum Held zu werden. Für einen Torwart ist es schwieriger als für alle anderen, gut auszusehen - weil er seinen Körper zu den absurdesten und haarsträubendsten Reflexen und Spreizungen zwingen muss. Er ist ein Hampelmann und muss ein Narziss sein, damit er das vergisst und sich die Chance bewahrt, dies alles durch die Schönheit seiner Paraden vergessen zu machen.
Wie gehen Sie, als Sportler, mit dem Altern um?
Das ist natürlich der wunde Punkt. Erfahrung kann einiges kompensieren, man kann die anderen laufen lassen. Man darf nicht, je älter man wird, desto jünger spielen wollen. Antizipation wird immer wichtiger. Aber es ist alles Gerede, es wird nicht besser, man kann nur hart daran arbeiten, dass es nicht schneller schlimmer wird. Ich mach das durch Boxtraining, ganz wie mein Vorbild Charles Schumann, denn der ist mit 70 noch ein genialer Torwart.
Die deutsche Elf sollte während der EM nach Auschwitz fahren …
Es sind ja nun, was mich sehr freut und erleichtert, mit Lahm, Podolski, Klose drei Spieler nach Auschwitz gefahren. Das finde ich ein außerordentlich nachhaltiges Zeichen. Wir haben eine Verantwortung für unsere Geschichte und für unsere Zukunft. Davon sind Sportler nicht ausgenommen. Und die Ursprünge des Fußballs in Deutschland - auch die von Bayern München! - sind jüdisch, weshalb dieses Geste noch viel wertvoller und notwendiger war.
Wie kann die EM dem Einfluss der Politik, speziell in der Ukraine, entrinnen?
So bitter es ist, sie kann es nicht. Aber die Menschen können es. Und die Politiker könnten symbolisch Zeichen setzen - aber nicht nur durch demonstrative Abwesenheit, sondern durch entschiedene Anwesenheit überall dort, wo es gilt, für Menschenrechte zu kämpfen. Es ist einfach, gegenüber der Ukraine Haltung zu zeigen und am einfachsten, wenn man nicht hingeht. Was wäre, sie gingen hin und rollten ein Transparent aus oder trügen orangene Bänder oder was weiß ich. Etwas, das ein Bild schafft, das um die Welt geht. Warum zeigt man Haltung nicht auch gegen China, gegen Russland? Warum schreitet man einhellig mit Putin, vor stramm stehenden Soldaten, den roten Teppich ab, während in Syrien Kinder abgeschlachtet werden?
Sie sind Dichter, Ihnen ist vieles möglich. Wir stellen uns also vor: Sie stehen, wie Ödipus, vorm Orakel von Delphi. Mit welcher Botschaft, den Verlauf und das Ergebnis der EM betreffend, kehren Sie zu uns zurück? Das erwartungsvolle Deutschland schaut Sie an - was künden Sie ihm?
Leider wurde das Orakel von Delphi auf Betreiben der EU privatisiert, weshalb ich gar nicht nachgefragt wurde und mir nun selbst eine Antwort gebe: Wir holen den Pokal. Und Schweinsteigers letzter Elfmeter wird vom Innenpfosten gegen den Rücken des Torwarts prallen, und dann ist er drin, und alles ist endlich gut!
Interview: Hans-Dieter Schütt
Ode an Hans Meyer
gehen sie davon aus dass
er über links kommt wo
sein herz flügel aber sein
hirn einen knöchel hat
mit dem er blind in die tiefe
des freien raums zwischen
den augenbrauen traum
pässe spielt in dem gottlosen
vertrauen dass auf dem rasen
der tatsachen keine schwalben
einen sommer machen denn
gehen sie davon aus dass
wenn er auf den hund kommt
kein harter knochen ist deshalb
müssen sie davon ausgehen
dass bei ihm nichts zu lachen
hat wer sich lustig macht wie
er es auch nicht liebt wenn einer
theater spielt aber dafür eine die
es macht sie können also davon
naturgemäß ausgehen dass er
handke vor dem elfmeterschießen
auswechseln würde und nabokov
zwischen die pfosten stellen würde
da der nicht fliegen sondern
schmetterlinge fängt sagt ihm
sein bauch und er boxt ihm
mut zu steckt ihm eine feder
in den handschuh und in den
schienbeinschoner hinein einen
zettel den er im traum schrieb
in gefahr und höchster not bringt
der mittelweg den tod denn
über den wolken davon können
sie ausgehen ist die freiheit
des balls grenzenlos
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