Ein jeder findet seine Rolle
Die ukrainischen Gastgeber - vor dem Turnier heftig in der Kritik - erweisen sich als den Polen ebenbürtig
Er bleibt eine Legende: 101 Länderspiele hat Oleg Blochin einst für die UdSSR absolviert; Blocha (der Floh) war 1974 Europas Fußballer des Jahres und ist auch als Nationaltrainer der Ukraine seit dem WM-Viertelfinaleinzug 2006 wenig umstritten: Er ist wohl der einzige, der es sich erlauben kann, über die Ukrainer zu schimpfen, die seiner Meinung nach die heimische Nationalmannschaft nicht genug unterstützt hatten bei der Niederlage gegen Frankreich: »Das ist hier eine EM und nicht die ukrainische Liga, das ist hier ein anderes Niveau«, sagte der Coach. Was bitte, hätten die Fans im Stadion denn erwartet? Einen Spaziergang? »Sie sollen mich auspfeifen, aber nicht die Spieler!«
Nun, vor dem entscheidenden Spiel in Donezk am Dienstagabend wird vom Viertelfinale heftig geträumt. Das Land steckt im Fußballfieber. Bei der Niederlage gegen Frankreich am Freitagabend musste die Fanzone in Kiew wegen Überfüllung geschlossen werden. Vielerorts wird nur in schwärmerischen Tönen von den Ukrainern gesprochen, etwa im schwedischen Fancamp am Dnepr, wo 6000 Fans auf der Tuchanow-Insel zelten. Sonnige Stimmung trotz des Ausscheidens.
Dass die Ukraine ein gut zu bereisendes Land ist, hat sich auch nach England herumgesprochen. Nach dem 3:2 der Engländer gegen Schweden wollen nun eine Menge Fans doch noch nach Donezk reisen, wo England mit dem wieder spielberechtigten Wayne Rooney gegen die Gastgeber um den Viertelfinaleinzug spielt.
In Donezk sind die exorbitanten Hotelpreise noch einmal gestiegen. Ein Zimmer im Hostel ist nicht unter 200 Euro zu haben, ein Dreisterne-Hotelzimmer kostet 600 Euro. Vor der EM hatte eine BBC-Reportage über rechtsextreme Fußballfans und die latente Fremdenfeindlichkeit vieler Ukrainer etliche Fans verschreckt, jetzt sorgen die Bilder feiernder Fans für hektische Nachbuchungen bei den Daheimgebliebenen.
Die These, dass sich die Ukraine zu einem Polizeistaat entwickele, wie es der grüne Europa-Abgeordnete Werner Schulz vergangene Woche am Rande seines Besuches bei Julia Timoschenko in Charkow beklagte, wird durch hohe Sicherheit bei der EM auf fragwürdige Art und Weise bestätigt: Dank allgegenwärtiger »Milizia« ist die Ukraine in diesen Tagen sicherer denn je. Dazu kommt, dass bisher bei allen Spielen Schwarzmarkttickets in ausreichender Zahl zu haben waren, kaum teurer als beim UEFA-Internetportal.
Für die Dramaturgie des Turniers wäre ein Weiterkommen der »Sbirna« natürlich wichtig, schließlich ist bei den Co-Ausrichtern in Polen ein Verebben der EM-Begeisterung programmiert. »Gemeinsam Geschichte schreiben« - Polen hat sein Mitwirken am Motto der EM ganz und gar unfreiwillig auf das Mindestmaß reduziert: die Rolle als Ausrichter.
Und hier ist dank des Ausscheidens der Russen zumindest mit keinen weiteren Gewaltausbrüchen zu rechnen, wie sie vor sechs Tagen in Warschau zu erleben waren, als sich russische und polnische Schläger durch die Straßen jagten. Bereits beim 0:1 gegen Griechenland in Wroclaw waren am Samstagabend keine russischen Hooliganhorden am Werke, stattdessen herrschte bei den Fans von Dsagojew und Co. nur Trauer über den tiefen Fall der Sbornaja.
Dank des neuen Reglements, dass den direkten Vergleich vor das Torverhältnis stellt, sind bis zum letzten Spieltag jähe Wendungen wie das Weiterkommen der Griechen möglich. In der Heimat wurden die Männer um Torschütze Karagounis gefeiert. Gemeinsam Geschichte schreiben: Womöglich werden Historiker bald erforschen, welche Bedeutung der Sieg für die Schicksalswahl der Griechen am 17. Juni 2012 hatte?
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