Trubel im russischen Menschenrechtsrat
Änderung des Reglements führt zu Austritten
Michail Fedotow, 62-jähriger Juraprofessor und seit Oktober 2010 Vorsitzender des Rates, gab in der vergangenen Woche neue Regeln für die Berufung von Ratsmitgliedern bekannt. Bisher hatte nur das Gremium selbst das Recht, Vorschläge für die Besetzung frei gewordener Stellen zu unterbreiten. Künftig sollen nicht nur Menschenrechtsgruppen, sondern alle Organisationen der Zivilgesellschaft das Recht bekommen, Kandidaten vorzuschlagen. Über die Vorschläge soll im Internet ab 1. August jeder Bürger Russlands abstimmen dürfen. Eine Liste mit den Namen der 39 Bestplatzierten wird danach Präsident Wladimir Putin vorgelegt, der daraus seine Auswahl trifft.
So beschloss es eine Arbeitsgruppe im Präsidentenamt unter Leitung von dessen Vizechef Wjatscheslaw Wolodin. Damit solle das Prozedere demokratischer und transparenter werden, hieß es. »Da es sich um einen Rat für die Entwicklung der Zivilgesellschaft handelt, muss man auch die Zivilgesellschaft befragen«, begründete Fedotow die neue Regelung.
Die aber traf bei Bürgerbewegten und kritischen Medien auf helle Empörung. Die russische Fußballnationalmannschaft werde ja auch nicht per Internet gewählt, ätzte ein Kommentator. Durch die Neuregelung werde der Rat zu einem weiteren arbeitsunfähigen Vollzugsorgan der Macht, warnte Ljudmila Alexejewa, Chefin der Moskauer Helsinki-Gruppe, die schon zu Sowjetzeiten als Systemkritikerin hervorgetreten war. Sie werde daher ihre Mitgliedschaft im Rat niederlegen, erklärte die 84-Jährige. Gleiches hatten vor ihr schon 13 andere Mitglieder getan. Die ersten, darunter die Journalistin Swetlana Sorokina, hatten sich dazu bereits nach den umstrittenen Parlamentswahlen im Dezember entschlossen, andere waren nach Putins Vereidigung für eine dritte Amtszeit Anfang Mai gefolgt. Swetlana Gannuschkina beispielsweise, Vorsitzende eines Hilfswerks für Migranten, wollte nicht mit einem Präsidenten zusammenarbeiten, der sich - wie sie glaubt - über die Meinung der Zivilgesellschaft hinwegsetzt. Die »Demokratisierung« des Auswahlmodus für den Rat beweise erneut, welche Angst die Macht vor der Gesellschaft habe. Gannuschkina und Alexejewa überlegen sogar, den alten Rat zu einer unabhängigen Menschenrechtsorganisation umzuformen. Man habe sehr gut zusammengearbeitet, sagte Gannuschkina, es wäre schade, wenn die Erfahrungen verloren gingen.
Am Montag folgten zwei weitere Mitglieder dem Beispiel Alexejewas. Wenn der Ratsvorsitzende Fedotow sich zum Befehlsempfänger degradieren lasse, sei das eine Verhaltensweise, die er nicht akzeptiere, erklärte Valentin Gefter, Direktor des Instituts für Menschenrechte. Fedotow selbst hatte gesagt, solange der Rat noch 20 seiner ursprünglich 40 Mitglieder habe, sei er arbeitsfähig. Das Limit ist allerdings nahe.
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