Anstoß

Marginalien zur Fußball-EM Heute: ANDREAS KÖTTER

  • Lesedauer: 3 Min.

Weiß eigentlich jemand, was das Motto der Europameisterschaft ist? Vor Ort kriegt man ja nichts mit. Am wenigsten von den Spielen - so ganz ohne Zeitlupe und Wiederholungen. Bei Frankreich gegen Schweden habe ich bestimmt eine Minute ein Tor gefeiert, das gar keins war. Der Ball hatte die Grundlinie außerhalb der beiden Pfosten überrollt - schwer zu sehen, wenn die Linie durch Werbebanden verdeckt wird.

Auch wir fühlen uns des Öfteren überrollt. Etwa im hübschen, von den Spielorten abgelegenen Odessa. Eine Busladung deutscher Touristen flutet das eben noch stille Café und stellt sich gemeinschaftlich der Herausforderung, ein »Alsterwasser« zu ordern. »Wir brauchen einfach ein Großes Glas Bier …« - PIWO!, die Vokabel sitzt - »... ein Glas Limo …« - betretenes Schweigen - »… und zwei Gläser zum Mischen« - zur Darstellung dieser Bedingung genügen zwei Finger. Dennoch scheitert die Bestellung: Leere Gläser stehen nicht auf der Karte.

Wir finden diese Situation deshalb ermutigend, weil sie uns dabei hilft, einer vom Deutschlandfunk vor Beginn unserer Reise gestellten Anforderung nachzukommen: WENN man schon in die Ukraine fährt, sollte man doch wenigstens die Bevölkerung auf die erkannten Missstände ansprechen. Und schon habe ich den Kommunikationsakt in Gedanken konzipiert: Timoschenko! Timoschenko! rufend, flattere ich mit den Oberarmen, um meinem Protest gegen die Inhaftierung der Politikerin nachhaltig Ausdruck zu verleihen …

In Wirklichkeit erleben wir immer wieder das delikate Gefühl, von etwas überrollt zu werden, dessen Teil wir unentrinnbar sind - allen Bemühungen zum Trotz, mit dem fremden Land zu verschmelzen, als Ukrainer unter Ukrainern zu erscheinen, gerissen alle Kniffe und Tricks zu durchschauen. Am schlimmsten übrigens von Schweden-Horden, die statt Anpassung und Auflösung eine gegenteilige Strategie fahren: Sie heben ihre Identität bemüht hervor. Geschlossen treten sie in gelben Mannschaftstrikots in Erscheinung, auf denen lustige Namen wie Nils, Olle oder Melker stehen. Es ist bitter, mit ansehen zu müssen, wie sie sich allein aufgrund der Farbidentität dennoch mühelos mit den Ukrainern verbrüdern.

Aber auch die Fußballshirts erweisen sich als irreführend. Der junge Mann im Polen-Dress kommt aus Kroatien und gesteht mir vor dem Sonntagsspiel in Kiew, für Italien zu sein. »Wegen 1990«. Ich aber mag Italien spätestens seit 2006 nicht mehr und erkläre, dass ich den Engländern die Daumen halte. Schon weil ich glaube, dass Deutschland die eher schlagen kann. »Da könntest du recht haben«, schaltet sich zu meinem Unbehagen ein als Engländer etikettierter Fan ein - der sich dann aber als ungefährlicher Däne entpuppt.

Ich selbst konnte bei dem Spiel endlich mein Brasilien-Shirt mit der Nummer 10 (und fünf Sternen) tragen, ohne fälschlicherweise einem Lager zugeordnet zu werden. Niemals hatte ich so viele Freunde, wurde von so vielen Menschen lautstark als Ronaldinho begrüßt. Und so hat sich mir das Motto der Europameisterschaft von selbst offenbart. Statt »Zu Gast bei Freunden« heißt es jetzt: »Masken-Ball für Jedermann«.

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