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Zyprische Lehrstunde
Es könnte eine Lehrstunde gewesen sein, die der zyprische Präsident Dimitris Christofias abhielt, als er die Vorhaben der Ratspräsidentschaft im Europäischen Parlament vorstellte: Ein Linker, der eines der höchsten Ämter in der EU übernimmt, präsentiert sich zugleich dermaßen authentisch, souverän und stolz auf seine Wurzeln, auf seine Identität als Kommunist, dass ihm die versammelten Vertreter der EU-Institutionen, einschließlich der Abgeordneten, den Respekt nicht verweigern konnten.
Um es gleich vorwegzunehmen: Es wird weder für ihn noch für die Linke, die sich mit ihm solidarisiert, einfach werden, die eigenen Ansprüche mit den Rahmenbedingungen dieses Amtes in Übereinstimmung zu bringen.
Seine Ankündigungen, als ehrlicher Makler zwischen den Institutionen zu vermitteln, wichtige Vorhaben in der Ratspräsidentschaft voranzutreiben, Zeitpläne durchaus einhalten zu wollen und in den nächsten sechs Monaten keine Revolution zu organisieren, sorgte sicher schon für manches Stirnrunzeln unter uns linken Abgeordneten.
Dennoch ist Christofias keiner, der sich den Zwängen einfach unterwerfen will, die das Amt mit sich bringt. Schon jetzt hat er neue Töne angeschlagen, die es an der Spitze des Europäischen Rates noch nicht gab. Als Alexis Tsipras die Aufkündigung jener Diktate forderte, die Menschen in tiefste Not stürzen, wurde er noch als Zerstörer Europas diskreditiert. Christofias legte den Finger in die Wunde: Dass Menschen wegen der Politik der Regierenden in der EU um ihr Überleben kämpfen müssen, will er nicht zulassen. Er thematisierte den Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung. Der Präsident wird vielfältige Gelegenheiten haben, genau diese Priorität seiner Amtsführung unter Beweis zu stellen.
Die Bevorzugung konkreter Programme zur Verbesserung der Lebensbedingungen, um Menschen aus sozialer Not und gesellschaftlicher Ausgrenzung zu helfen, wird Christofias und seiner Präsidentschaft Verhandlungshärte abverlangen. Ob bei den Beratungen zum mehrjährigen Finanzrahmen oder bei der entsprechenden Ausstattung der Kohäsions- und Strukturfondsprogramme, dem Haushalt für das Jahr 2013.
Christofias weiß auch, dass noch jede Menge von ihm so bezeichneter »toxischer Papiere« auf ihn warten, wie jenes zur Schaffung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems. Wird es ihm gelingen, die europäische Asylpolitik tatsächlich so zu beeinflussen, dass die Menschenrechte und die Würde der Asylsuchenden in der EU künftig garantiert werden können?
Christofias' Präsidentschaft steht unter unguten Vorzeichen: Seine Regierung musste erst dieser Tage den Antrag stellen, den EU-Rettungsschirm in Anspruch zu nehmen. Gleichzeitig verhandelt er noch mit Russland um günstigere Kredite. Indes verweigert die türkische Regierung während der zyprischen Präsidentschaft die Zusammenarbeit mit der EU und kompromittiert damit nicht nur Christofias, sondern die Europäische Union insgesamt. Christofias agiert also sehr klug, wenn er sich die Unterstützung des Europäischen Parlaments sichert, indem er sich nachdrücklich für dessen Rechte ausspricht.
Ungeachtet all dieser Voraussetzungen tut die Linke gut daran, den Vorsitz im Rat der Europäischen Union durch Zypern mit Christofias als Präsidenten solidarisch und kritisch zu begleiten - zum Beispiel, indem sie eigene Vorschläge zu den konkreten Vorhaben in den kommenden sechs Monaten unterbreitet.
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