Friedfertig
West-Eastern-Divan-Orchestra auf Berlins Waldbühne
Unbestimmt die Witterung. Regen prasselt. Mal, mal nicht. Wird das Konzert stattfinden? Fünfzehntausend zogen vorgestern zur Waldbühne am Berliner Olympiastadion, dem jetzigen Herthastadion. Der Himmel hatte sich aufgeklart. Buntes Volk im Rundbau. Junge, Alte, Leute verschiedener Kulturen. Eine rauchige, entspannte, Sinne anfachende Atmosphäre. Überdacht nur die Bühne. Junge Musikerinnen und Musiker betreten sie gemächlichen Schritts. Es dunkelt schon etwas. Kühle meldet sich. Um so mehr leuchtet der weiße Kopf des Maestro, der zuletzt kommt, klein von Wuchs, seine Ausstrahlung mächtig. Bedeutender, hellwacher Künstler.
1999 trat das West-Eastern-Divan-Orchestra ins Leben. Es besteht in gleichen Teilen aus israelischen und arabischen Musikern, dazu einige Spanier. Gründer: Daniel Barenboim, seit 1992 hef der Lindenoper, bei ersten Orchestern der Welt gefragt, und Edward Said, gestorben 2003 in New York, palästinensischer Literaturwissenschaftler, Interessenvertreter der Palästinenser in den USA. Zwei Menschen, bereit, über politische Klippen hinweg, den oben gestörten, durchsiebten Dialog unten zu verwirklichen, modellhaft, Augen öffnend. Pazifisten beide Künstler, überzeugt, dass nur militärfeindliche Mittel den israelisch-arabischen Konflikt wenn nicht lösen, so doch bändigen können.
Welch herrliche Möglichkeit, dem Weltgewissen zu zeigen, dass Künstler aus verfeindeten Staaten miteinander können, geeint durch das Notenbild, das sie umsetzen, angesteckt in ihrem Empfinden durch die Musik selbst, nicht durch jene politischen Kriminellen, die die Völker gegeneinander hetzen, um sie niedrig und stimmlos zu halten. Das nach Goethes berühmter Gedichtsammlung benannte Orchester liefert solche Modelle. Was immer es musiziert, die Musik klingt anders als gemeinhin gewohnt. Sie führt die Idee des Friedfertigen vielstimmig mit.
Die ersten Male probiert das Orchester in Weimar und Chicago. 2002 ist ausgemacht, dass Sevilla fester Sitz des jungen Apparates ist. Die andalusische Regierung (Junta de Andalucía) hilft großzügig und ermöglicht, dass jeden Sommer Probenphasen stattfinden können, angereichert mit Vorträgen und Diskussionen, bevor die Musiker auf internationale Tournee gehen.
»Eroica« (3. Sinfonie) und »Schicksalssinfonie« (5. Sinfonie) von Beethoven stehen auf dem Programm. Werke, die jeder mäßige Schüler kennt, doch leider zumeist nicht erkennt, dass es sich um Kompostionen allererster Erfindungs- und Gestaltungskraft handelt. Anfangs des 19. Jahrhunderts galten sie als so ungeheuerlich, dass selbst Wiens Fachwelt meinte, sie seien unspielbar, obendrein ungeniessbar. Ungenießbar allenthalben für ein Wiener Publikum, das lieber Wiener Würstl fraß, als sich solche Musik anzutun.
Beethoven hasste derlei Banausentum. Das West-Eastern-Divan-Orchestra, hoch motiviert (es schien, als hätte es etwas zu wenig probiert), kam erst allmählich in Schwung. Die Open Air-Bedingungen sind nicht leicht zu meistern. Die tönend bewegte Form kommt mehr schlecht als recht aus riesigen Lautsprechersäulen. Die Musik verzerrt, übersteuert gelegentlich, Solistisches überstrahlt ungenmäß. Technisch muss auf Aussteuerung, Klangbalance größte Aufmerksamkeit verwendet werden. Das schien bei der Wiedergabe der Dritten oft nicht gewährleistet.
Die »Eroica«, dies Wahnsinns-Opus, vernehmlich wie aus der Blechbüchse. Nach der Pause dann (die Technik hatte gearbeitet), fast ein Wunder, die genaue Umkehrung. Die Fünfte, tatata-taaa, kam klar, unverzerrt in alllen vier Sätzen. Mit Verve musiziert, sauber intoniert, Barenboim auf der Höhe des Könnens.
Das nicht enden wollende, dauernd neu ansetzende Finale, etwas, das sich der Wiener Meister offenbar bei Bach angeschaut hat, erhellte diesen wunderbaren Spätabend, als wäre er eine weiße Nacht. Die Fünfzehntausend schienen wie aus dem Häuschen. Beethoven verstand seine Sinfonien als Konzertsaal der Menschheit. Eine Illusion. Hier blühte die Idee auf wie ein Zeichen der Bitte um weltweiten Frieden. Für einen Moment.
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