Im Turbo zum Abitur
Die verkürzte Schulzeit an den Gymnasien ist in Deutschland (West) weiter umstritten
Jana hat einen Zehnstundentag. Um zwanzig nach sieben verlässt die Kölner Gymnasiastin ihr Elternhaus, geht zur Straßenbahn-Haltestelle. Unterwegs steigen Freundinnen zu; in der Schule angekommen, warten auf die Zwölfjährigen bis zu acht Stunden Unterricht. Die Pausen sind kurz, ein warmes Essen in der Mittagszeit gibt es nicht. Eine gute Viertelstunde dauert der Aufenthalt in dem umfunktionierten Klassenzimmer, das als provisorische Mensa dient. Janas biologische Leistungskurve befindet sich auf dem Tiefpunkt, doch es geht gleich weiter mit Chemie, danach kommt noch Sport. Als sie das Schulgebäude verlässt, ist es fast vier, daheim folgen die Hausaufgaben. Die schafft sie, wenn sie sich konzentriert, bis gegen 18 Uhr. Im Winter ist es dann schon dunkel, viel unternehmen kann sie nicht mehr. Schnell noch das Kaninchen gefüttert und eine Runde Einrad gefahren, die Eltern warten bereits mit dem Abendbrot.
»Janas Alltag ist anstrengender als meiner«, sagt ihre Mutter. Martina Wesemann hat als kaufmännische Angestellte eine Zweidrittelstelle. Der Grund für den Stress ihrer Tochter ist G 8, das »Turbo-Abitur« in acht Jahren, das in den westdeutschen Ländern in den vergangenen Jahren nach und nach das neunjährige Gymnasium (G 9) abgelöst hat. 35 Stunden und mehr dauert der Unterricht seither selbst in der Unterstufe. Am Ende der neunten Klasse sollen die Schüler so viel gelernt haben wie früher erst nach der zehnten Jahrgangsstufe. Mindestens vier Stunden mehr Unterricht pro Woche sind die Konsequenz, Übungs- und Wiederholungsphasen fallen einfach weg. »Wir haben unsere Tochter beim Leichtathletikverein abgemeldet, das passte zeitlich nicht mehr rein«, erzählt Martina Wesemann. Andere Kinder verzichten auf das Üben eines Musikinstrumentes, gehen nicht mehr ins Schwimmbad oder geben die Theatergruppe auf: G 8 strukturiert ihre Freizeit und verändert das Familienleben. Paradox ist, dass auch zahlreiche Eltern einst kürzere Schulzeiten gefordert haben. Doch als Mütter und Väter am eigenen Nachwuchs die praktischen Folgen beobachten konnten, schlug die Stimmung um. Das Für und Wider von G 8 war ein wichtiges Thema in zahlreichen Landtagswahlkämpfen der letzten Jahre. »So macht die Schule unsere Kinder krank« griff die »Bild«-Zeitung das Thema auf. »Früher fertig« titelte der »Spiegel« doppeldeutig, die »Zeit« witterte gar »Kinderarbeit« und »Neoliberalismus im Klassenzimmer«.
Das wichtigste Argument der Befürworter von G 8 lautet, deutsche Schüler und Hochschüler seien zum Zeitpunkt ihres Abschlusses zu alt. Politiker sorgen sich um die Konkurrenzfähigkeit junger Deutscher auf einem globalisierten Arbeitsmarkt. Zwar ist richtig, dass zum Beispiel US-Amerikaner oder Briten ihre Ausbildung meist früher beenden und zeitiger ins Erwerbsleben eintreten. Doch welcher deutsche Abiturient hat tatsächlich Nachteile im internationalen Wettbewerb? Ganz im Gegenteil hat die Republik mit der Abwanderung junger Akademiker zu kämpfen, die jenseits der Landesgrenzen attraktive Stellen angeboten bekommen. Das spricht eher für das Niveau der hiesigen Ausbildung als dafür, dass das Alter der Absolventen ein Hindernis ist.
Vor einer »schleichenden Einführung der Ganztagsschule« warnte Heinz-Peter Meidinger vom Philologenverband. Die konservative Lehrerorganisation, die sich in der Vergangenheit gegen die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) positioniert hat, befürwortet das dreigliedrige Schulsystem. In die Debatte um den Ganztagsbetrieb aber ist Bewegung gekommen. »Dann brauchen wir eine ganz andere Rhythmisierung des Unterrichts, Pausen für Sport, Musik, Theater und Leseförderung, wir brauchen Mittagsaufsicht, Hausaufgabenhilfe, Förderlehrer«, schlug Meidinger jüngst neue Töne an.
G 8 forciert so das Ende eines (west)deutschen Sonderwegs, der Beschränkung der Schule auf den Vormittag. »Ganztag« klang einst immer wie »Gesamt« und galt mit diesem Reizwort bereits als erledigt. Doch Flickschusterei und Scheinlösungen helfen nicht mehr weiter, die langfristige Antwort kann nur eine flächendeckende Umgestaltung sein. Überall werden derzeit Schulgebäude umgebaut, denn die ganztägige Nutzung steigert den Platzbedarf: Räume nicht nur zum Essen, sondern auch zum Ausruhen oder für Freizeitaktivitäten. Mit improvisierten Kantinen und der Einstellung von ein paar Küchenhilfen auf Stundenbasis ist es nicht getan. Erforderlich ist zusätzliches qualifiziertes Personal für Versorgung und Betreuung - und eine andere Einstellung zum Beruf bei so manchem Gymnasiallehrer: Sich in der heimischen Studierstube Wissen aneignen und nur zum eigentlichen Unterricht in der Klasse erscheinen, ist nicht mehr gefragt.
Je länger sich der Nachmittag in der Schule ausdehnt, desto mehr sollten sich Lernen, Erholungszeiten und andere Angebote abwechseln, empfehlen Fachleute. An vielen Schulen haben sich neue Kooperationen mit Betreuungsanbietern, Sportvereinen und Initiativen der Jugendarbeit entwickelt. Schule ist inzwischen weit mehr als eine pädagogische Einrichtung - und auch eine Hilfe bei der viel beschworenen Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Im günstigen Fall gibt es am späten Nachmittag und Abend sogar mehr Zeit für ein wirklich entspanntes Familienleben - ganz ohne Hausaufgabenstress.
Was ist G 8?
In der bildungspolitischen Debatte meint G 8 die Einführung des Abiturs nach acht Jahren Gymnasium. In Ostdeutschland war dies schon zu DDR-Zeiten die Regel. Den Anfang im Westen machten 2001 die Eingangsklassen im Saarland, 2004 folgten Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen, 2005 Hessen und Nordrhein-Westfalen. Einen eigenen Weg geht Rheinland-Pfalz, wo die Schüler nach 12,5 Jahren Abitur machen. Ausnahmen bilden auch viele westdeutsche Gesamtschulen, die weiterhin 13 Jahre Unterricht anbieten und deshalb steigende Anmeldezahlen registrieren. tg
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