Schriftsteller Wladimir Kaminer

Rock'n Roll kam mit dem KGB ins Land

  • Lesedauer: 6 Min.
Das neue Werk von Wladimir Kaminer, »Onkel Wanja kommt«, nimmt den Leser mit auf einen Spaziergang durch das nächtliche Berlin. Ein Trip voller eigentümlicher Begegnungen und Betrachtungen über das Leben in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Augenzwinkernd zitiert Kaminer James Joyces »Ulysses« und Anton Tschechows »Onkel Wanja«.

nd: Wladimir Kaminer, in Ihrem neuen Buch »Onkel Wanja kommt« verbinden Sie den Besuch Ihres Onkels mit Ihrer eigenen Geschichte. Erkennen Sie in Ihrem Onkel den Wladimir wieder, der vor 22 Jahren nach Deutschland kam?
Kaminer: Sicher bringt mein Onkel eine gewisse Naivität und Neugier mit, weil er zum ersten Mal wie ich damals ein anderes Land besucht. Im Grunde genommen erzählt das Buch vom Versuch, im Nebel der vergangenen Geschichten auf einer Reise durch Baustellen Berlins Konturen der Zukunft zu erahnen.

»Onkel Wanja« heißt ein Stück Ihres Landsmannes Tschechow.
Zum einen ist das eine zufällige Namensgleichung. Zum anderen ist Tschechows Onkel Wanja auch ein Mann, der sehr viel sieht, versteht und anstrebt, aber nicht wirklich vorankommt. Ein Mann, der ein Leben lebt, von dem man gar nicht weiß, ob das jetzt im Zeichen der Hoffnung oder im Zeichen des Scheiterns stattfindet. Dies ist im Grunde das Hauptgefühl meines Buches.

Ihr Onkel kommt nur mit einem kleinen Koffer in Berlin an.
Das Hauptgepäck befindet sich in seinem Kopf. Es sind die Geschichten des 20. Jahrhunderts. Ohne dieses Gepäck ist keine Zukunft möglich.

Was hatten Sie im Gepäck, als Sie 1990 hierher kamen?
Eine Stange Zigaretten, eine Flasche Wodka als Souvenir und einen alten Anzug, den ich von einem verstorbenen Musiker geerbt hatte. Und in der Socke hatte ich zwei Mark. Ein Geschenk von meinem ehemaligen Arbeitgeber in Moskau. Er wusste nicht, wie viel Wert diese zwei Mark waren. Er sagte, damit könne ich entweder einmal Straßenbahn fahren, ein Kilo Bananen oder eine Tafel Schokolade kaufen. Bei uns in Moskau konnte man zum Preis von einem Kilo Bananen zwei Monate Straßenbahn fahren!

Wie hat Sie das Leben im Sozialismus geprägt?
Ich war nie allein. Ich kenne das Leben eigentlich nur als Kollektiv. Gleich einen Tag nach meiner Geburt landete ich im Kindergarten in einer Babygruppe. Später folgten Pionierlager und Kaserne. In Deutschland landete ich zuerst in einem Ausländerwohnheim, gleich danach gründete ich eine Familie. Das Gefühl, dass der Mensch eher in einer Symbiose lebt, hat seine Wurzeln in der sozialistischen Vergangenheit. Dort wurden die Ziele der Gemeinschaft über die Ziele des einzelnen gestellt.

Hat sich der sowjetische Staat um seine Bürger gekümmert?
Natürlich. Dieses Kümmern des Staates kam zu den Bürgern in Form von Armeebefehlen. Der Staat hat seine Bürger in Reih und Glied aufgestellt und sie im Grunde genommen in eine lebensfeindliche Position gezwungen.

Wie lief im Sozialismus die Berufswahl ab?
In der Sowjetunion gab es eine Broschüre: »Was möchte ich werden?« Darin waren sämtliche Bildungseinrichtungen mit den dafür notwendigen Noten aufgezählt. Ich wollte aber gar nichts werden.

Sie erwähnen am Rande, dass Sie mal obdachlos waren. War das eine Folge Ihrer Verweigerung?
Ich habe in Moskau in einem besetzten Haus gewohnt, das eigentlich planiert werden sollte. Die wirklichen Obdachlosen wurden eingesammelt und nach Sibirien gebracht, wo man ihnen ein Dach über dem Kopf zur Verfügung stellte. Wenn man nicht gerade an den Kreml spuckte, war in der Sowjetunion vieles möglich.

Wie ging der Staat mit Hausbesetzern um?
Solange wir keine politischen Veranstaltungen organisierten, ließ man uns in den leer stehenden Häusern in Ruhe. Das Problem war nur, dass wahre Kunst sich früher oder später mit der Politik auseinandersetzt. Unsere erste Auseinandersetzung mit dem Regime war kein Undergroundkonzert, sondern der Geburtstag von John Lennon. Wir haben ihn gefeiert und dabei bestimmte Teile seiner Philosophie dargestellt. Damals waren noch sowjetische Soldaten in Afghanistan. Die Idee, dass Liebe alles sei, was man braucht, war mit sozialistischem Aufbau nicht vereinbar.

Was passierte dann mit Ihrer Wohngemeinschaft?
Das besetzte Haus wurde geräumt, uns wurden die Pässe entzogen. Wie richtige Verbrecher bekamen wir es mit dem KGB zu tun. Wegen eines ziemlich nichtigen Anlasses.

In Ihrer Jugend hörten Sie Deep Purple, Black Sabbath und Slade. Wie fand die »dekadente« westliche Musik in die Sowjetunion?
Es gab Leute, die ausreisen durften, in erster Linie waren das Staatsvertreter. Auch die Mitarbeiter des KGB hatten Kinder. Und die sagten: »Du Papi, wenn du das nächste Mal nach England fliegst, kannst du mir dann ein paar Platten mitbringen?« Die KGB-Leute hatten keine Ahnung von Musik. Die Platten, die sie von ihren Reisen mitbrachten, wurden dann auf Musikkassetten vervielfältigt. In Moskau gab es das Tonstudio Nummer 1, eine sehr wichtige Adresse. Dort konnte man die Kopie einer Deep-Purple-Platte für drei bis fünf Rubel erwerben. Der Rock'n'Roll kam also durch die Staatssicherheit in die Sowjetunion.

War westliche Rockmusik in der Sowjetunion offiziell verboten?
Offiziell existierte diese Musik gar nicht. Es gab eine Liste mit verbotenen Bands, es waren vielleicht hundert. Sie hatten sich irgendeine politische Äußerung erlaubt und durften bei Tanzveranstaltungen nicht mehr gespielt werden. Andererseits gab es auch eine Positivliste mit Bands, die empfohlen wurden. Diese hatten sich ebenfalls eine politische Aussage geleistet, aber in eine sozialistische Richtung. Oft standen dieselben Bands auf beiden Listen, weil Rock'n'Roller sehr unbeständige Menschen sind. Heute sagen sie dies, morgen das.

Hat der Rock'n'Roll die Sowjetunion rückblickend verändert?
Die subversive Seite des Rock'n'Roll hat bei der politischen Veränderung der Sowjetunion eine sehr wichtige Rolle gespielt. Die russischen Bands hatten ja diese westlichen Kollektive als Vorbild. Sie übernahmen deren Ideen der Unabhängigkeit und Freiheit. Wenn man sich heute die Charts anschaut, kann man kaum glauben, dass der Rock'n'Roll ursprünglich eine Widerstandsgeste war, ein Zeichen des Kampfes gegen Unterdrückung.

Aufbegehrende Bandmitglieder der russischen Frauen-Punk-Band »Pussy Riot« sind in Haft. Sehen Sie Parallelen zwischen Putins Russland und der Sowjetunion?
Die wahren Rock'n'Roller, die nicht aus der kommerziellen Bewegung kommen, haben massiv gegen Putin protestiert. Musiker, die ich noch von damals kenne, haben jetzt ein »Weißes Album« veröffentlicht. Weiß, weil es in Moskau die Farbe des Widerstands ist. Eine bemerkenswerte Geste, weil man daran sieht, was Künstler in sich haben. Und unter jenen Kulturschaffenden, die Putins Kandidatur unterstützt haben, waren fast nur Schauspieler. Diese Schauspieler kriechen jeder Macht in den Arsch, solange sie ihre Serien weiterspielen dürfen. Bei Musikern und bildenden Künstlern ist der Prozentsatz der anständigen Leute erstaunlicherweise weit höher.

Putin reagiert sehr harsch auf die Proteste. Wird die Bewegung ihm standhalten können?
Russland hat schon Schlimmeres gesehen, deswegen ist diesen Leuten nicht wirklich Angst zu machen. Ich glaube, dass der russische Staat zurzeit keine Haltung hat gegenüber dem politischen Protest. Die Musiker verhalten sich ja nicht anders als die Masse der Protestierenden. Ich glaube, diese ganze Geschichte hat gerade erst angefangen und hoffentlich eine positive Entwicklung vor sich. Wenn eine Umwandlung der Gesellschaft in Gang gesetzt worden ist, ist sie eigentlich nicht mehr zu bremsen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der heutige Staatsapparat beginnen muss, sich in etwas Anständiges zu verwandeln.

Interview: Olaf Neumann

Wladimir Kaminer: »Onkel Wanja kommt. Eine Reise durch die Nacht. Manhattan Verlag. 192 S., geb., 17,99 €.

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