Wenn Kennedy überlebt hätte

Stephen King unternimmt in »Der Anschlag« ein Zeitreise in die 60er Jahre

  • Lilian-Astrid Geese
  • Lesedauer: 3 Min.

Zu den historischen Augenblicken, die unzweifelhaft die amerikanische Geschichte veränderten, zählt der 22. November 1963. Es ist der Tag, an dem John F. Kennedy in Dallas, Texas, ermordet wird. Was wäre gewesen, wenn er überlebt hätte? Wie hätte sich die Weltgeschichte verändert, wenn sein Tod hätte verhindert werden können?

In Stephen Kings jüngstem Roman »Der Anschlag« (im englischen Original 11/22/63) überträgt der lungenkrebskranke Restaurantbesitzer Al seinem Freund, dem engagierten Lehrer Jake Epping, quasi auf dem Sterbebett diese Mission. Denn Al hat einen Weg gefunden, in die Vergangenheit zurückzukehren. Und er hat einen Plan: Jake soll genau diesen Weg gehen, retour ins Jahr 1958, und fünf Jahre später Lee Harvey Oswald daran hindern, den US-Präsidenten zu töten.

Unklar bleibt, warum Al glaubt, so dazu beitragen zu können, dass der Vietnamkrieg nicht Tausende von Menschen das Leben kosten wird. Aber Jake ist so oder so von der Idee angetan, das eigene Land zu einer ganz anderen Zeit zu erleben. Was beide unterschätzen, sind die massiven Folgen, die es für die Zukunft hat, wenn man die Vergangenheit ändert. Der berühmte Schmetterlingseffekt wird Jake jedoch mehr als deutlich erlebbar, als er später in die Gegenwart zurückkehrt, die gänzlich anders ist, als die, die er einst verließ. Und in der er eigentlich auch nicht bleiben möchte, denn er hat sich in der Vergangenheit in eine Frau verliebt.

Es ist eine grandios spannende Erzählung, die Vielschreiber Stephen King - vierzig Romane, darunter »Carrie« und »The Green Mile«, über einhundert Kurzgeschichten, Novellen, Drehbücher, Gedichte, Essays, Kolumnen und Sachbücher - auf 1056 Seiten aufrollt. Es ist erstklassige Retro-Fiktion und beste Unterhaltung, die vielleicht auch dem Zeitgeist geschuldet ist. Die Medien haben die 1960er Jahre im Blick, wie erfolgreiche TV-Serien à la »Mad Men« beweisen.

Doch King schwelgt nicht allein in Nostalgie. Er wahrt kritische Distanz, denn die Sechziger waren nicht nur die Zeit, in der Autos wunderschön und kunterbunt waren und die Menschen nachts ihre Häuser nicht abschlossen. Es waren auch die Jahre, als viele weiße Amerikaner weder »integrierte Schulen« noch sonstige Gleichberechtigung, gar Nähe zu Afroamerikanern wollten, als Frauen gesellschaftliche Anerkennung bestenfalls als brave, fürsorgliche Gattinnen und Mütter fanden. King beschreibt diese Atmosphäre ganz wunderbar in der texanischen Provinzstadt Jodie, in der Jake (alias George Amberson) sein Auto nicht bis zum nächsten Morgen vor dem Haus seiner Freundin Sadie parken darf, schließlich sind sie - die 28-jährige geschiedene Bibliothekarin und der 42-jährige Vertretungslehrer an der örtlichen High School - nicht verheiratet. Die Vergangenheit ist nicht nur Gold, wie Jake bald merkt. Und die Zukunft lässt sich schwer manipulieren.

Man mag Kings Roman als Plädoyer lesen, das Beste aus der eigenen Zeit zu machen. Und als sanfte Erinnerung, dass selbst die unendlichen Archive des Internet eine wirkliche Rückkehr ins Gestern nicht möglich machen. Oder schlicht als feine Unterhaltung. Denn »Der Anschlag« zeigt wieder einmal: Bei amerikanischen Autoren seiner Klasse muss man nicht fürchten, dass Langeweile aufkommt, wenn man ein ziegelsteinschweres Buch aus dem Buchladen schleppt. Hier werden Geschichten erzählt, Handlungsstränge aufgebaut, Spannungsbögen gespannt, wird die Leserin, der Leser in geheimnisvolle, fremde, fiktive Welten katapultiert. In diesem Fall die Welt von gestern, die klammheimlich und unvermeidlich die Welt von heute und morgen ist.

Stephen King: Der Anschlag. Roman. Aus dem Amerikanischen von Wulf Bergner. Wilhelm Heyne Verlag. 1056 S., geb., 26,99 €.

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