Gedenken an Euthanasieverbrechen
In Brandenburg/Havel wurden in der NS-Zeit mehr als 9000 Menschen ermordet
Ausgerechnet an dem Ort, wo die Faschisten erstmals psychisch Kranke mit Kohlenmonoxid erstickten, habe es am längsten gedauert, eine Gedenkstätte einzurichten, bedauerte Günter Morsch am Freitag in Brandenburg/Havel. Der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten hatte jedoch auch Grund zur Freude. Denn endlich konnte die Ausstellung am Nicolaiplatz 28 eröffnet werden. Hier, in der Scheune des Alten Zuchthauses, das bereits 1931 geschlossen wurde, befand sich die Gaskammer. Dort sind von Januar bis Ende Oktober 1940 mehr als 9000 Menschen ermordet worden.
Insgesamt summieren sich die Krankenmorde der Nazizeit auf 70 000. Andere Tötungsanstalten sind bereits seit vielen Jahren mit Gedenkstätten versehen: Hartheim seit 1969, Bernburg seit 1982, Hadamar seit 1983, Grafeneck seit 1990 und Pirna-Sonnenstein seit dem Jahr 2000.
Besonders gewissenlos war der zu Forschungszwecken verübte Mord an kranken Kindern. So erreichte am 28. Oktober 1940 der letzte von fünf Kindertransporten das Alte Zuchthaus. Die Opfer waren aus wissenschaftlichem Interesse ausgewählt. Professor Julius Hallervorden vom Kaiser-Wilhelms-Institut für Hirnforschung beschrieb dann 1948 ungeniert in einem Aufsatz für die Fachzeitschrift »Der Nervenarzt« den Fall des 1927 geborenen Werner Przadka. Der Junge war als Dreieinhalbjähriger aus einem Fenster gefallen und litt hernach unter Krampfanfällen mit Bewusstlosigkeit. Der Professor schildert seine Beobachtungen zur Entwicklung eines Hirntumors nach einem Hirntrauma. Der Skandal dabei: er hatte diese Erkenntnisse gewonnen durch die Untersuchung von Przadkas Gehirn, dass 1940 der Leiche des extra deswegen getöteten Kindes entnommen wurde.
Geleitet wurde das Euthanasieprogramm aus einer Villa in der Berliner Tiergartenstraße 4. Man bemühte sich um Geheimhaltung, verschleierte Ort, Datum und Umstände des Todes. Von den Angehörigen wurde teilweise noch monatelang Geld für die Pflege der tatsächlich längst ermordeten Menschen kassiert.
Trotzdem ließ sich das Verbrechen nicht gänzlich verbergen. Lothar Kreyssig, ein Vormundschaftsrichter aus Brandenburg/Havel, wurde misstrauisch, nachdem viele seiner Mündel verletzt wurden und bald darauf unerwartet starben. Er stellte Strafanzeige. Um keine Unruhe zu erzeugen, brachen die Nazis die Euthanasie Ende 1940 offiziell ab. Insgeheim gingen die Morde aber weiter. Außerdem nutzte man die technischen Erfahrungen beim Massenmord in den Vernichtungslagern.
Bis heute werden die in Brandenburg/Havel und anderen Tötungsanstalten ermordeten Kranken von der Bundesrepublik nur als Opfer und nicht als Verfolgte des Naziregimes anerkannt, erläutert Margret Hamm vom Bund der Euthanasie-Geschädigten und Zwangssterilisierten. Dies habe einen finanziellen Hintergrund. Die Geschwister, Kinder oder Enkel der Getöteten könnten sonst Entschädigungen verlangen. Dass die Euthanasieopfer als Verfolgte anzusehen sind, sei von der Forschung inzwischen zweifelsfrei festgestellt, betont Hamm. Die Bundesregierung stütze sich jedoch auf die Ergebnisse einer Anhörung des Bundestags im Jahre 1961. Damals seien als Experten allerdings Psychiater geladen gewesen, die sich an den Euthanasieverbrechen beteiligt hatten. Geholfen habe zuletzt nur die Linksfraktion, die eine Anfrage bei der Bundesregierung gestellt habe, berichtet Hamm. Eine weitere parlamentarische Anfrage werde vom Büro der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke vorbereitet.
Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasiemorde, Nicolaiplatz 28 in Brandenburg/Havel, Do. und Fr. von 13 bis 17 Uhr, Sa. und So. von 17 bis 17 Uhr
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