Chronik eines Pogroms: Sonntag, 23. August 1992

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 2 Min.

Nachdem die Attacken am Samstag fast ungestört stattfinden konnten, fühlen sich die Rassisten auf der Siegerstraße. Ab Sonntag, dem 23. August, mobilisieren die Neonazis in ganz Nord- und Ostdeutschland, straff organisiert über CB-Funk - und teils bereits unter Verwendung moderner Kommunikationsmethoden wie Mailboxen.

Vor dem Sonnenblumenhaus trifft sich die gesamte Führerkaste der bundesdeutschen Menschenhasserszene: Bela Ewald Althans von der »Gesinnungsgemeinschaft der neuen Front«, Christian Worch, der »Erbe« von Ober-Nazi Michael Kühnen, Christian Malcoci von der »Hilfsgemeinschaft für nationale Gefangene«, Michael Büttner von der »Deutschen Alternative« aus Cottbus, der Nazi-Terrorist Arnulf Priem und sogar der österreichische »Wehrsport«-Führer Gerhard Endress und der schwedische Spitzenkader des »Weißen arischen Widerstands«, Erik Rundquist, werden vor dem Haus von Beobachtern identifiziert. In Lichtenhagen fallen zahlreiche Autos mit auswärtigen Kennzeichen auf, viele davon aus dem Westen.

Am Sonntag beginnen die Ausschreitungen bereits am Nachmittag. An einem Imbisstand kann man sich sogar mit Bier versorgen. Laut Polizei greifen etwa 500 Personen das Sonnenblumenhaus an - diesmal nicht nur die ZASt, sondern auch bereits das im Nachbaraufgang gelegene Wohnheim für die vietnamesischen Vertragsarbeiter. 3000 bis 5000 Anwohner sehen zu, applaudieren oder rufen Parolen. Immer wieder ermöglichen sie den Angreifern einen Rückzug in ihre Reihen.

Die Polizei setzt nicht nach und versucht auch nicht, die Menge wegzutreiben. Dazu ist sie auch gar nicht in der Lage: Obwohl allein zur Polizeidirektion Rostock damals über 1000 Beamte zählen, sind am Samstag gerade mal drei Dutzend Polizisten mit Mütze und Kurzarmhemd eingesetzt, die von den Randalierern teils übel verprügelt werden. Erst tief in der Nacht zum Sonntag treffen zwei Wasserwerfer ein.

Auch am Sonntag ist die Polizei so gut wie hilflos gegen die rassistischen Randalierer. Doch gegen 22 Uhr, als rund 200 Linke in einem friedlichen Demo-Zug vor die ZASt ziehen wollen, werden sie kurzzeitig aktiv und verhaften rund 60 linke Demonstranten - die vor laufenden Kameras gefesselt als »Randalierer« abgeführt werden.

Unmittelbar danach verstärken die Rechten ihre Angriffe auf die Polizei, die mit Steinen und Leuchtspurmunition eingedeckt wird. Erst jetzt wird ein landesweiter Alarm ausgelöst und werden erfahrene Hamburger Kräfte teils mit Grenzschutz-Hubschraubern eingeflogen. Dann erst endet die Gewalt - für diesen Abend.

Alle Artikel zu 20 Jahre Rostock-Lichtenhagen finden Sie online im nd-Dossier unter: www.nd-aktuell.de/lichtenhagen

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.