Ein Tag im September
Das Geiseldrama von München 1972 und eine noch ausstehende Geste
»Ausgerechnet das unsportlichste Element der Familie darf fahren«, lästerten mein Bruder und ich, als die Mutter uns eröffnete, sie werde von ihrer Redaktion zu den XX. Olympischen Sommerspielen nach München geschickt, um möglichst viele Interviews mit Sportlern verschiedener Nationen einzusammeln. Hätten wir auch nur geahnt, welche Schlagzeilen am 5./6. September 1972 um die Welt gehen würden, vorlaute Teenagermünder wären verschlossen geblieben. So jedoch kam mit dem Schock über den Gewaltakt, der über einen heiter-friedlichen Wettstreit der Jugend der Welt hereinbrach, Sorge um die Mutter, Mitglied der DDR-Journalistendelegation.
Das Haus der DDR lag dem Israels direkt gegenüber. »Wären die Chaoten des ›Krisenkommandos‹ auf die Idee gekommen, das israelische Quartier zu stürmen, was mehrfach erwogen wurde, wäre das DDR-Quartier unweigerlich in den Feuerhagel geraten«, erinnert sich Klaus Huhn, damaliger Chef des nd-Sportressorts. Er weiß auch, dass das MfS um die Einreise zweier Offiziere bat, was von Hans-Dietrich Genscher, dem damaligen Innenminister, akzeptiert wurde. »Sie durften sogar mit ihren eigenen Waffen einfliegen, genehmigt nach einer Beratung höchsten Orts in Bonn. Sie trafen im Olympischen Dorf Maßnahmen, die sie zum Schutz der DDR-Mannschaft für nötig hielten.« Eine Mitte der 90er Jahre aus der Gauck-Behörde in die Medien lancierte »Enthüllung«, die Stasi sei am Attentat beteiligt gewesen, überraschte Huhn nicht, passte sie sich doch in die gängigen Gruselarien über die DDR ein. Akteure und Zeitzeugen wussten und wissen es besser, kein klar denkender Mensch fiel auf die Story rein. Dahingegen weist eine Spur auf Unterstützung der Terroristen aus der Neonazi-Szene in der Bundesrepublik.
Am 6. September 1972 kommentierte »nd«: »Es ist bekannt, daß die DDR gegen die Aggression Israels an der Seite der arabischen Staaten steht und eine politische Lösung des Konflikts auf der Grundlage der Resolution des Sicherheitsrates unterstützt. Terrorakte, wie in München, können selbstverständlich weder einer gerechten friedlichen Lösung dienen, noch sonstwie dazu beitragen, daß die von Israel besetzten Gebiete geräumt werden.« Die Geiselnehmer verlangten die Freilassung von 232 Palästinensern aus israelischen Gefängnissen sowie der deutschen RAF-Gründer Andreas Baader und Ulrike Meinhof und eines japanischen Terroristen. Tel Aviv teilte mit, dass es keine Verhandlungen geben werde. Der Trainer der israelischen Ringer, Mosche Weinberg, und Gewichtheber Yossef Romano, starben kurz nach der Geiselnahme, noch im Olympischen Dorf. David Mark Berger, Elieser Halfin, Seew Friedman, Josef Gutfreund, Amizur Schapira, Kehat Shorr, Mark Slavin, André Spitzer und Jaakow Springer wurden beim missglückten Befreiungsversuch in der Nacht zum 6. September auf dem Militärflughafen Fürstenfeldbruck erschossen, ebenso fünf Terroristen und ein deutscher Polizist.
Schon am Folgetag begann die bis heute anhaltende Debatte über mangelnde Sicherheit und fatale »Pannen«. Ob die nach dem Massaker gegründete GSG 9 dieses hätte verhindern können, bleibt umstritten. Die französische Tageszeitung »Le Monde« berichtete von einer »Nacht des Blutes und der Lüge«. Fünf Stunden verstrichen, ehe die Öffentlichkeit über den »auf höchster Ebene« getroffenen Feuerbefehl für die Scharfschützen informiert wurde; anfangs hieß es, die Geiseln seien am Leben. Das Attentat hat die Hoffnung der Bundesregierung durchkreuzt, das Image der Deutschen im Ausland aufzupolieren. Nach einer Trauerfeier im Olympiastadion verkündete IOC-Präsident Avery Brundage: »The games must go on!« Der Mossad hat derweil alle Mittäter (und einige Unschuldige) zur Strecke gebracht.
Warum es vier Jahrzehnte danach nicht möglich sein soll, den Wunsch der Angehörigen der Opfer nach einer Schweigeminute während der Eröffnung Olympischer Spiele zu erfüllen, ist nicht zu begreifen. Rücksichtsnahme auf Befindlichkeiten in arabischen Staaten können als Argument schwerlich noch herhalten. Das Drama von München ist Geschichte, mit der heutige junge Sportler aus Nahost nichts zu tun haben. Die Jugend der Welt, geeint im Gedenken an ermordete Sportfreunde - das wäre mehr als eine Geste.
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