Im Juni 2002 machte das Feinkostgeschäft in Stade, direkt neben dem Rathaus, pleite. Nach 102 Jahren. Die Schattenseite des Inhabers blieb zunächst im Dunkeln. Bis die Anteilnahme zu peinlich wurde. Er hatte als SS-Mann schwere Schuld auf sich geladen.
Die Lokalzeitungen feierten Abschied und der inzwischen 94-jährige Inhaber gab Erinnerungen zum Besten. Zweimal, heißt es, war Gerhard Schröder bei ihm, als Ministerpräsident von Niedersachsen. Beim ersten Mal waren sie in der Fußgängerzone vor dem Geschäft ins Gespräch gekommen. Beim zweiten Mal fragte Schröder, als er im Rathaus weilte, nach dem »netten alten Herrn von nebenan« und besuchte ihn.
Es wurde arrangiert, dass Gustav W. zur Geschäftsaufgabe ein persönliches Schreiben des Bundeskanzlers erhielt. Als Peter Meves davon erfuhr, versuchte er vergeblich, die Aushändigung des Schreibens zu verhindern. Augenarzt Meves ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der Deutsch-Israelischen Gesellschaft DIG in Stade. Der ansonsten streitbare Mann verzichtete darauf, den Fall öffentlich zu machen. Sollte Gustav W. in Frieden sterben.
Eine besondere Würdigung aber schien ihm unangemessen. Noch stieß ihm der Fall von Heinz Eckhoff aus Apensen auf. Im November 2000 hatte der frühere Mann der Waffen-SS und NPD das Bundesverdienstkreuz erhalten. Die in Stade rege Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN-BdA sah ebenfalls keinen Anlass, einen Skandal zu provozieren. Keines der einstigen Opfer oder ihrer Nachgeborenen wollte den ersten Stein werfen.
Inzwischen ist er geschleudert worden. Im Mai 2003 finden in Niedersachsen israelische Kulturwochen statt, auch in Stade. Man kam auf die Idee, einen Vortrag über Ahlem ins Programm zu nehmen. Ein Kulturbeitrag über die 1893 gegründete Israelitische Erziehungsanstalt und spätere Gartenbauschule. Nur am Rande sollte erwähnt werden, wofür Ahlem sonst noch steht: für Völkermord. Von 1941 bis 1944 befand sich hier eine Sammelstelle für die Deportationen von Juden aus den Regierungsbezirken Hannover und Hildesheim in die Konzentrations- und Vernichtungslager. Und dann war da noch der Fall dieses alten Mannes.
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Am 3. April 1945 beorderte SS-Obersturmführer Hans Heinrich Joost etwa zehn seiner Männer zu sich. Joost war Leiter der Gestapo-Außenstelle in Hannover-Ahlem. Er hatte vom Chef der Gestapo-Leitstelle den Befehl zu einer Massenerschießung erhalten. Am nächsten Tag würde ein Transport aus dem »Arbeitserziehungslager« Lahde mit zumeist sowjetischen Zwangsarbeitern eintreffen. Aus diesen und den Insassen des Gestapo-Gefängnisses in Ahlem sollte Joost jene selektieren, die nach dem Ende gefährlich werden könnten, die Bolschewisten. Die US-Armee stand schon vor den Toren der Stadt.
Joost war sich bewusst, dass diese Morde in letzter Minute, sollten sie ruchbar werden, sein sicheres Todesurteil bedeuteten. Er versuchte die Ausführung des Befehls zu verzögern. Es gelang ihm, den Schießbefehl nicht selbst geben zu müssen. Dass er die Männer in seinem Büro fragte, wer von ihnen »nicht die Kraft zur Ausführung dieses Befehls« habe, gehörte zu seiner Strategie. Wenn keiner mitmachte, würde er eben melden, dass der Befehl nicht ausführbar sei. Aber nur einer, ein vormaliger Mittelschullehrer aus Soltau, sagte nein und konnte gehen. Die übrigen bekamen von Joost eine Schachtel Zigaretten.
Am Sonntag, den 6. April, wurden ab zehn Uhr 154 Männer und ein russisches Mädchen im Alter von etwa 17 oder 18 Jahren in Gruppen zu 25 an den Rand der Grube auf dem Seelhorster Friedhof geführt. Der dienstälteste Gestapo-Mann gab den Schießbefehl und die »Gnadenschüsse« in den Kopf. Die ans Grab tretenden Häftlinge mussten die vor ihnen Gefallenen mit Erde bedecken. 14.30 Uhr war es vorbei.
Gustav W., damals 37 Jahre, machte bei Joost Meldung. Er berichtete auch, dass es Komplikationen gegeben habe. Das russische Mädchen hatte nicht sterben wollen. Einer der Wachmänner feuerte zweimal auf sie, erst beim dritten Schuss fiel sie. In diesem Moment, als die Schützen irritiert waren, griff Peter Palnikow, ein 25-jähriger sowjetischer Kriegsgefangener, einen Spaten und schlug den SS-Mann nieder, der auf das Mädchen geschossen hatte. Palnikow sprang in den nahen Wald und entkam.
Vier Tage später nahmen die US-Amerikaner Hannover ein. Durch den geflohenen Gefangenen wurde das Massaker rasch bekannt und erregte, wie von Joost erwartet, den Zorn der Sieger. Die Bevölkerung der Leinestadt wurde aufgefordert, sich am 2.Mai um neun Uhr auf dem Seelhorster Friedhof einzufinden, um der Exhumierung des Massengrabs beizuwohnen. Weit mehr Leichen als befürchtet wurden geborgen, 526 insgesamt. 386 wurden in einem feierlichen Trauerzug zum Maschsee gefahren und am Nordufer bestattet.
Sechs Gestapo-Männer standen im April 1947 vor Gericht. Einer wurde freigesprochen, drei zum Tode verurteilt, zwei erhielten Haftstrafen. Gustav W. bekam 13 Jahre. Am 13.August 1950 wurde er begnadigt, »wegen guter Führung«. Seither lebte er als ehrbarer Bürger in seiner Heimatstadt Stade, betrieb das Feinkostgeschäft.
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»Wenn man in Stade über Ahlem spricht, wird auch dieses zur Sprache kommen müssen«, meinte Dr. Peter Meves und riet den Verantwortlichen, den geplanten Vortrag aus dem Programm im kommenden Jahr zu nehmen. Das taten sie. Sie taten es offenbar nicht aus Einsicht. Denn sie lancierten einen Zeitungsartikel mit dem Tenor: Die DIG habe mit einem Eklat gedroht, wenn über Ahlem gesprochen werde, und damit die Kulturwochen gefährdet. »Im Einsatz war hier nach gesicherten Erkenntnissen auch ein noch lebender Stader SS-Mann.« Mehr teilte die Zeitung ihren Lesern nicht mit.
Was nun? Weiter wegsehen, den Täter ein letztes Mal decken, sich in voller Absicht schützend vor ihn stellen? Oder die ganze Geschichte erzählen? In Stade empört man sich jetzt über Peter Meves. Weil der darauf bestand, dass Geschichte unteilbar ist. Er steht am Pranger, weil er verhindern wollte, was daraufhin eintrat: Gerüchte über die Vergangenheit des Feinkosthändlers schießen ins Kraut, und der alte Mann ist zum Stadtgespräch geworden.
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