FELICITAS*, 54, erzählt:
„Ich habe keine Lust, zu gar nichts. Wozu auch? Mir macht nichts mehr Freude. Ich versuche, die Tage rumzubringen, möglichst billig rumzubringen. Im Sommer ging das einigermaßen: Ich hab im Garten rumgepusselt, mal übern Zaun mit dem Nachbarn geredet - jetzt wird es Herbst, jetzt wird es schlimm. Vor allem an den Wochenenden, wenn die Geschäfte geschlossen sind. Oder abends, wenn ich allein bin. Manchmal denke ich: mach Schluß! Aber dann fehlen mir der Mut und die Medikamente, mit denen es klappt.“
Felicitas ist depressiv, seit sie ihre Arbeit verlor. Zugleich verlor sie den Lebensgefährten, der in seinem neuen Job sehr viel unterwegs sein mußte. Obwohl sie sich mit ihm und für ihn freute, war sie selbst so unausgeglichen; daß die Beziehung daran zerbrach.
„35 Jahre lang bin ich berufstätig gewesen. Ich habe Stenotypistin gelernt, bin Industriekaufmann geworden, mit 39 habe ich dann fünf Jahre Staatswissenschaften studiert, wurde von meinem Mann geschieden, hab meine alte Mutter gepflegt und zwei Söhne großgezogen, schließlich wurde ich Leiterin einer Allgemeinen Verwaltung mein Leben ist nicht so gelaufen, wie es hätte laufen können. Wessen Leben lief schon so? Aber ich habe mein Leben gemeistert. Immer war ich im Streß, kannte nie Geldnot nun sehen Sie ja, was ich bin. Nichts. Nun fangen die Sorgen an.“
Felicitas hat monatlich 850 Mark zur Verfügung. 433 Mark zahlt sie davon für die Miete, 189 Mark jedes Vierteljahr für Strom. „Alles, was ich mir geschaffen habe, werde ich nicht mehr halten können: Nicht das Auto, das Grundstück, das Telefon. Wenn ich etwas mehr Geld hätte, hätte ich vielleicht das Gefühl, daß sich das Leben noch lohnen könnte. Doch selbst, wenn ich Geld hätte, was dann? Auf der Arbeit konnte ich mich mit meinen Kolleginnen austauschen. Und jeden Freitag haben wir für alle zum Frühstück Brötchen geholt. Nein, da gab es nicht ßur privates Geschwafel. Aber auch, das soll schlecht gewesen sein? Nein, wir haben mitgefühlt, Menschlichkeit in den Knochen gehabt. Das ist alles aus und vorbei. Jung und dynamisch sollen wir sein! Aber ich fühle mich wie 100 - zigmal hab ich mich beworben und gehört: ,Ach wissen Sie, wir dachten an eine jüngere Kraft!'. Soll man da, noch Freude haben? Soll man da nicht depressiv sein? Was ist das Leben denn noch wert?“
Die 45]ährige Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Gabriele Saborowski ist mit dem Krankheitsbild vertraut. Bis sie im Januar dieses Jahres den sozialpsychiatrischen Dienst im Kreis Oranienburg übernahm, leitete sie 14 Jahre lang die Neurologie in der Poliklinik beim Krankenhaus Hohen-Neuendorf. „Eine tief niedergeschlagene Stimmung, Freudlosigkeit, Antriebslosigkeit und gestörte Lebensgewohnheiten signalisieren die Depression“, erklärt Gabriele Saborowski. Sie beobachtet im Kreis Oranienburg ein Ansteigen solcher Depressionen und der Suizidhäufigkeit. Und zwar „bei den ,ganz normalen', kleinen 'Leuten auf der Straße, die Existenzängste nicht bewältigen, in Hoffnungslosigkeit abgleiten, ihre Identität verlieren“.
Nun ist diese Behauptung kühn. Die Ärztin mit dem Jungenschnitt weiß das. Exponierte Fachkollegen vertreten andere Auffassungen. Beispielsweise der Hallenser Selbstmordforscher Prof. Dr. MR Helmut Späte, der auf dem 16. Weltkongreß für Selbstmordverhütung unlängst in Hamburg für das Jahr des Mauerfalls die niedrigste Suizidrate der DDR seit 30 Jahren feststellte. Prof. Späte geht davon aus, der neue Kampf um die Existenz setze mehr lebenserhaltende als -zerstörende Kräfte frei,. Frau Saborowski will nicht in Clinch gehen. Zumal sie den Kollegen schätzt. Doch sie meint: „Ach wissen Sie, die Statistik in eine Hure und das Jahr 1989 nicht das Jahr 1991.“ 89 hätten viele Menschen als Befreiung erlebt, im Jahr 91 dagegen seien neue Grenzen gewachsen. Und während sie bei chronisch Kranken, denen sie jahrelang zuredete, sich nicht invalidisieren zu lassen, plötzlich eine Straffung erlebt, büßen andere, bislang Gesunde, mit einem Mal an Lebensmut ein.
Gabriele Saboroswki ist Theoretikerin nur insofern, als sie sich der Praxis verschrieben hat. So beruft sich die Nervenärztin vornehmlich auf Erfahrungen. Der sozialpsychiatrische Dienst, der nach dem landläufigen Modell der Altbundesländer aufgebaut wurde, nimmt sich vor allem der Menschen an, die „einen Professor nie belästigen würden“)und für die sich ein niedergelassener Arzt nicht genügend Zeit nehmen wird, „weil er nichts an ihnen verdient.“ Da solche Patienten zu DDR-Zeiten von den Po-
likliniken betreut wurden, kennt die Ärztin sich mit den Aufgaben aus. Wie damals fährt sie Hausbesuche bei Menschen, die so weit runter sind, daß sie von allein keinen Arzt aufsuchen und denen man also „nachlaufen“ muß, und bei Leuten, die „ihren Verstand versaufen“ - so was habe es immer gegeben. Doch heute gehören zu ihrer Klientel ehemalige Stahlwerker oder Lokomotivbauer aus dem LEW Hennigsdorf, die vor die Tür gesetzt wurden. Was macht diese Leute krank? Auf der Hand liegen mindestens drei Gründe. Erstens: existenzielle Nöte - in jüngster Zeit war Frau Saborowski mit einer Reihe „final angelegter“, also nicht appellativer, Selbsttötungen konfrontiert, deren Motive Verschuldung waren. Menschen haben sich erhängt, die sich in der ersten Euphorie der neuen Freiheit Kredite aufluden, die sie dann, plötzlich arbeitslos, nicht fristgemäß zurückzahlen konnten. Zweitens: Der Verlust der Arbeit wird kaum oder nur sehr schwer verwunden. Offenbar war Arbeit als Wert, mehr als man erwartet hat, in der DDR verinnerlicht. In der Werteskala rangierte Arbeit sogar deutlich vor der
Freizeit. Drittens: Der „Kampf um die Existenz“, der „lebenserhaltende Kräfte“ weckt, fäUt - weil nicht erlernt - zunächst aus. Bleibt die „innere Emigration“: Die Ehepartner hocken zu Haus, können weder was miteinander noch mit ihren Kindern anfangen, vor allem Männer beginnen zu trinken, Frauen möglicherweise auch, die aber heimlich, weil's nicht zur Rolle paßt, und wer sucht schon den Schnaps im Wäschekorb... „Unter Alkoholeinfluß sinkt die Hemmschwelle für Suizide“, weiß Gabriele Saborowski. Die soziale Indikation sei neu. Psychische Instabilität habe früher mehr individuelle, private Ursachen gehabt. So, wie in Elviras Fall
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