»Schafft die Schulpflicht ab!«, hieß es vor wenigen Wochen in einem Kommentar auf der ND-Bildungsseite. Eine Forderung, die von vielen Lesern mit Unverständnis und Ablehnung quittiert wurde. Dass Bildung auch ohne die staatliche Zwangsbeschulung möglich ist, zeigen allerdings Beispiele aus anderen Ländern.
In der EU kennt nur Deutschland den pickelhaubenharten Schulzwang. Die bürgerfreundlichste Form der Schulbildung existiert mit der Bildungspflicht seit 1855 in unserem Nachbarland Dänemark. Man kennt dort freie und kommunale Schulen. In den vom Staat unterstützten, aus einer bäuerlich-christlichen Gesinnung heraus entstandenen so genannten Friskoler (etwa 200), den privaten Grundschulen (1. bis 10. Klasse) sowie den privaten Realschulen und Gymnasien ist ein schier unglaubliches Bürgerengagement möglich. Die Eltern sitzen in den Schulvorständen, besitzen eigene Schlüssel für die Schulgebäude und haben in den Grundvig-Koldschen-friskoler sogar die Beschlussgewalt an ihrer Schule inne.
Diese freien Schulen gründen sich auf eine in Dänemark tief verwurzelte Überzeugung, der die deutsche Schultradition heute fast nichts Vergleichbares entgegensetzen kann. Lediglich die fast vergessene Reformpädagogik der Weimarer Republik mit ihrem Konzept der Schulgemeinde hatte und die Waldorf- sowie Alternativschulen haben ähnliche Gedanken. Die Friskoler stützen sich auf Grundprinzipien, wie beispielsweise auf bürgerliche Freiheit, Gemeinschaft, Verantwortungsbereitschaft und Gleichheit und nennen dieses Element »folkelig«. Ein Begriff, der mit »völkisch« nur schlecht übersetzt wäre.
Es geht den Dänen im Wesentlichen um fünf Freiheiten:
Das Prinzip der ideologischen Freiheit (Demokratischer Pluralismus). Kein Staat kann Eltern vorschreiben, in welchem weltanschaulichen Geiste sie ihr Kind erziehen wollen. Die Eltern wählen ihre Schule oder auch den Domizilunterricht (Hausunterricht) aus religiösen, pädagogischen oder politischen Gründen selbst aus. Dieses Toleranzgebot umfasst auch die staatliche Unterstützung für zum Beispiel sozialistische Schulen. Im Zuge der Anti-Terror-Debatte wird in Dänemark allerdings derzeit das Problem der muslimischen Zuwanderer diskutiert.
Das Prinzip der pädagogischen Freiheit (Pädagogisches Konzept). Die Eltern und die Schulen bestimmen sowohl die Unterrichtsinhalte als auch die Methoden und Organisationsformen des Unterrichtens selbst. Der Staat stellt nur ganz geringe Anforderungen an den »Lehrplan«. Allerdings wird in Dänemark heute diskutiert, ob sich nicht doch die Inhalte mehr auf einen Allgemeinbildungskanon festlegen lassen sollten.
Das Prinzip der wirtschaftlichen Freiheit (Finanzhoheit). Die freien Schulen erheben ein geringes Schulgeld, der Großteil des Geldes kommt vom Staat. Aber die Schulen lassen sich auf keinen Fall reinreden, wie dieses Geld verwendet wird.
Das Prinzip der Anstellungsfreiheit (Personalhoheit). Die Eltern und die Schulen legen selbst fest, wen sie als Lehrer einstellen wollen, also auch Menschen ohne jede pädagogische Ausbildung. Entsprechend den Rechten in einem Tendenzbetrieb können Lehrer aus nicht-pädagogischen Gründen heraus angestellt und entlassen werden. Zum Beispiel, wenn das »richtige« Glaubensbekenntnis oder Parteibuch fehlt oder das muslimische Kopftuch zu viel ist.
Das Prinzip der Aufnahmefreiheit (keine Zwangsbeschulung). Jede Schule stellt bestimmte Anforderungen an die Schüler, die sie aufnehmen möchte. Niemand kann eine Schule zwingen, einen bestimmten Schüler aufzunehmen oder nicht aufzunehmen.
Wenn wir von diesen Verhältnissen hören, dann klingt uns das seltsam utopisch im Ohr. Und trotzdem hat es Bestand, lebt seit 150 Jahren in einer Gesellschaft der Citoyens fort. Einer Gesellschaft, die auch unter der deutschen Nazi-Besatzung ihr Bürgerbewusstsein nicht aufgab, sich gelbe Sterne ansteckte - der König zuerst! - und massenhaft Juden zur Flucht über die See nach Schweden verhalf. Viele dieser Dänen waren in den freien Schulen zu Citoyens im Geiste des folkelig erzogen worden.
Die geringe »Aufsicht des Staates« kann allerdings auch negative Folgen haben, wie der Fall der der Dritten Welt besonders verbundenen Tvind-Schul-Pädagogik gezeigt hat. Der 1979 spurlos untergetauchte ausbeuterische Guru der späteren sektenartigen Bewegung, Amdi Petersen, wurde erst im Oktober 2001 wieder entdeckt. Er führte in Florida ein Luxusleben, das ihm seine Anhänger willig finanzierten.
Das Beispiel zeigt, dass wir das Verfassungsgebot der Aufsichtspflicht des Staates gegenüber Schulträgern und Neugründungen sehr ernst nehmen sollten. Und es heißt auch: Dänemark nicht kopieren, sondern genau hinschauen und Wertvolles in unsere eigene Tradition einpassen.
Auch Belgien, Irland, Luxemburg, Schweden, Norwegen, Österreich, Finnland, Spanien, Frankreich, Großbritannien oder Italien kennen nur die Bildungspflicht. Hier muss von den Eltern beispielsweise der Lernfortschritt der Kinder gegenüber einer Schule nachgewiesen werden, um für das nächste Jahr die Erlaubnis zum Domizilunterricht zu erhalten. Die Schweiz zeigt ein diffuses Bild: im Kanton Zürich ist Domizilunterricht zum Beispiel erlaubt, in St. Gallen, Schaffhausen und dem Tessin dagegen herrschen Zustände wie bei uns.
In den Niederlanden mit ihren vielen Privatschulen dagegen besteht - ebenso wie in Portugal und Griechenland - offiziell seit einiger Zeit wieder Schulpflicht, allerdings wird diese in der Praxis der drei Länder so großzügig ausgelegt, dass man auch von Bildungspflicht sprechen darf. Die Niederlande haben in dieser Frage eine lange Tradition. 1917 kam es dort zur »großen Verständigung« hauptsächlich zwischen Staat und Kirche, was zur Übernahme von vielen Schulen durch freie Träger führte.
Bekanntestes Paradebeispiel für ein Schulsystem, das auf Bildungspflicht basiert, sind sicherlich die USA: Hier liegt die Schulbildung dezentral in den Händen von Eltern, Schulvereinen oder der Öffentlichkeit. Ganz im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Meinung ist Bildungspflicht nicht etwa in der US-Verfassung verankert, sondern wurde erst von Eltern gegen viele Widerstände erkämpft und ist seit 1976 in allen Bundesstaaten erlaubt. Eine direkte bundesstaatliche Schulaufsicht besteht in den USA nicht, auch wenn es ein Bildungsministerium gibt. Lediglich die Finanzierung des Bildungssystems wird teilweise übernommen, auf einige Rahmenbedingungen haben Bundesgesetze Auswirkungen. Die Schulen liegen in staatlicher oder privater (häufig katholischer) Trägerschaft. Die Bundesstaaten delegieren in der Regel ihre Aufsichtsfunktion und Kontrollbefugnisse an »local school boards«, die die direkte Aufsicht in den über 15000 »school districts« führen. Die entsprechenden Curricula werden auf dieser Ebene erstellt und können sogar von Schule zu Schule variieren.
Die große amerikanische Schul-Freiheit hat dazu geführt, dass es gute, weniger gute und finanzstarke Elite-Schulen und Universitäten (wie Stanford und Harvard) gibt. Dieses unerwünschte Splitting zwischen intellektueller Hochleistung und jämmerlichem Wissensstand ließe sich bei uns mit einer Reform des Bildungswesens verhindern, indem wir in öffentlichen und privaten Schulen Konsens über einen verbindlichen Kanon der Allgemeinbildung herbeiführen.
Trotzdem sind die US-Amerikaner mit ihrem Gesamtschulsystem im Großen und Ganzen nicht schlechter gefahren als andere Nationen. Die Liste der amerikanischen Nobelpreisträger, Psychotherapeuten oder Erfinder, die alle durch eine private oder staatliche Gesamtschule liefen, spricht jedenfalls dafür. Allerdings wurde dies durch ein Zweiklassenschulsystem erkauft. Bill Gates hat bis zum Ende seiner Schulzeit auf der Gesamtschule neben einer »ärmlichen Napfsülze« gesessen, die heute statt Software Softpornos verhökert.
Der Schulkritiker, Oberstudienrat, Supervisor und Buchautor Raimund Pousset arbeitet an der Christiane-Herzog-Schule, einem Berufsschulzentrum in Heilbronn.