Die verkaufte Braut
Zwangsheirat in Deutschland: Keine Seltenheit, aber selten wahrgenommen und fast nie geahndet
Kein Drehbuch, eine wahre Geschichte. Das Kind einer serbischen Roma-Familie lebte seit drei Jahren in Berlin, als sie verheiratet werden sollte. Ob mit Hilfe von Freunden oder des Jugendamtes - sie landete bei Papatya. Papatya ist eine »Kriseneinrichtung« für junge Migrantinnen. Mit anonymer Adresse, der Kontakt kommt über eine Telefonnummer zu Stande. Das Mädchen hatte Glück. In der Wohnung der Einrichtung war ein Platz frei.
Eine Frage der Familienehre
Papatya betreut im Jahr bis zu 70 Mädchen, für die die Flucht von zu Hause der letzte Ausweg ist. Rund ein Drittel der jungen Frauen wurde Opfer von familiären Konflikten in Folge von Zwangsverheiratungen, die mit dem Begriff jedoch nur dürr beschrieben sind. Ein Stoff, aus dem die Dramen sind. Grausamkeit und Tradition, Seelenpein und Geborgenheit. Theodor Fontane, Nagib Machfus: Ob Effie Briest oder die Familie des Kairoer Kaufmanns Achmed Abd al-Gawwad, die Traurigkeit ist ständige Kehrseite des Geborgenseins. Die Ehre der Familie, grausames Kriterium für ein an sich legitimes Sicherheitsinteresse.
Einst liebevolle Väter werden zu grausamen Despoten, die Mütter helfen an der Tochter zu vollziehen, was sie selbst erlitten haben, Großmütter versuchen zu beruhigen, Tanten wenden sich bedauernd ab, Brüder werden zu tyrannischen Vollzugspersonen des väterlichen Willen. Die Unberührtheit der eigenen Tochter berührt direkt den eigenen Ruf. Ein Versprechen, und sei es weinselig gegeben auf einem fröhlichen Fest, muss eingelöst werden. Selbst wenn es den Verkauf der eigenen Tochter beinhaltet. Gehorsam der Kinder ist unbedingte Pflicht. »Wie, hast Du nicht einmal Deine Tochter im Griff?« Jahrhunderte hat es so funktioniert. Überall. Auch in Deutschland vor nicht langer Zeit. Und selten war »Die verkaufte Braut« ein fröhliches Singspiel.
Auch jetzt geschieht es in Deutschland. Niemand weiß, wie oft. Bei einer Umfrage wurden im vergangenen Jahr in 50 Berliner Hilfseinrichtungen rund 230 Fälle von Zwangsverheiratungen bekannt. »Lediglich die Spitze eines Eisberges« bekomme man zu sehen, fürchtet Corinna Ter-Nedden vom Verein Papatya.
Es sind Migrantenfamilien aus Ländern mit patriarchalischen Gewohnheiten, die ihre Töchter »unter die Haube« bringen oder für ihre Söhne Jungfrauen aus der Heimat kommen lassen. »Es besteht Handlungsbedarf«, sagt Rahel Volz von Terre des femmes in bestimmtem Ton. Sie leitet die bundesweite Kampagne »Stoppt Zwangsheirat«. Seit langem war der Organisation bekannt, dass Frauen in afrikanischen Ländern, in Indien, Pakistan oder der Türkei gegen ihren Willen verheiratet werden. Lehrerinnen machten darauf aufmerksam, dass das Problem eines auch im heutigen Deutschland ist. Im Gegensatz zur arrangierten Ehe, die letztlich die Einwilligung beider Ehegatten voraussetzt, kommt die Zwangsehe gegen den Willen eines der Partner zustande. Dies sind nicht in jedem Falle Frauen. Auch junge Männer werden zwangsverheiratet. Sie können sich mit ihrer Lage aber besser arrangieren, weil ihnen weit mehr Rechte und Freiheiten zustehen.
Durchaus auch Familien aus Ländern, die hier zu Lande kulturell als nicht allzu fern betrachtet werden, setzen diese Praxis in Deutschland fort. Was daran nicht in Ordnung sein soll, will ihnen meist nicht in den Kopf. Und in der Hochzeitsnacht wartet die ganze Familie vor der Tür, hinter der sich für ihr Kind eine Tragödie vollzieht, auf dass ihr das blutige Laken als Beweis für die bis zur Eheschließung erhaltene Jungfräulichkeit der Braut gezeigt werde.
Seyran Ates vermag für diese Grausamkeit kein Verständnis aufzubringen. Auch sie sieht dringenden Handlungsbedarf. Die Berliner Anwältin betreute bereits Klientinnen, die als Zwölfjährige für 3000 Deutschmark geradezu verhökert wurden. Wenn sie den Weg zu ihr finden, liegt die Kindheit meist als nebelhafte Erinnerung hinter ihnen. Und eine Zukunft scheint ihnen verbaut. Auch das verlangt die Familienehre: Verziehen wird nicht.
Die Berichte der Opfer ähneln einander frappierend. Häufig wird auf einer Reise in die Heimat von den Eltern überraschend mitgeteilt, dass dort die Verlobung oder Heirat stattfinden werde. Schläge, um das störrische Kind gefügig zu machen. Nicht selten geben junge Frauen an, mit dem Tode bedroht worden zu sein. Wo für Menschenleben ohnehin wenig verlässliche Garantien existieren, erst recht, wo es Erinnerungen an Rachemorde gibt, nehmen junge Frauen dies nicht als leere Drohung.
Doch die Grenzen zwischen arrangierter und Zwangsehe verwischen. Wenig existenziell erscheinen Drohungen, die Familie werde die Tochter verstoßen, oder der Appell an den Familiensinn. Und doch kann Liebesentzug ein Kind mit diesem kulturellen Hintergrund unter starken Druck setzen. Dorothee Frings, Juristin mit einer Professur an der Fachhochschule Niederrhein, sieht ebenfalls Handlungsbedarf. Zum Beispiel ist eine Rückkehr von Frauen nach Deutschland, auch wenn sie hier ihren Lebensmittelpunkt hatten, nach Verheiratung im Heimatland der Eltern derzeit nicht ohne weiteres möglich.
Depressionen und Angstzustände
Irmingard Schewe-Gerigk will Zwangsheirat als eine Form von Gewalt »in das gesellschaftliche Bewusstsein rücken«. Die Bundestagsabgeordnete der Grünen wies in einer von ihr organisierten Anhörung in Berlin darauf hin, dass die verordnete Heirat bereits ohne Exzesse zu ihrer Durchsetzung Gewalt ist. Dies spiegele sich in internationalem Recht wider. »Die Ehe darf nur aufgrund der freien und vollen Willenseinigung der zukünftigen Ehegatten geschlossen werden«, heißt es in Artikel 16 der Allgemeinen Erklärung für Menschenrechte. Das UNO-Abkommen zur Beseitigung der Diskriminierung der Frau verpflichtet, die »Eheschließung nur mit freier und voller Zustimmung zu gewährleisten«.
Während Mädchen in Marokko oder der Türkei, Jugoslawien oder Griechenland, Senegal oder Vietnam sich in aller Regel in das Unvermeidbare schicken, ist die Quote des Aufbegehrens in der westeuropäischen Diaspora deutlich höher. Kinder in Deutschland sind mit deutschen Freunden zur Schule gegangen, von hiesigen Einflüssen geprägt. Dies gerade ist jedoch zugleich einer der Gründe für manche Einwandererfamilie, die Tochter mit ihresgleichen zu verheiraten, mit einem entfernten Verwandten etwa, und so die eigene Tradition zu bewahren.
Folgerichtig ist die Entscheidung zur Flucht allerdings so wenig wie ihr gutes Ende. Die Bindungen an die Familie sind meist stark. »Die Mädchen wollen ihre Großmutter nicht verlieren. Oder fühlen sich schuldig gegenüber den kleinen Geschwistern, die sie lieben und für die sie oft Verantwortung übernommen haben«, sagt Corinna Ter-Nedden. Und sie fürchten die Welt außerhalb der Familie.
Von einem Tag auf den anderen aus der Kindheit und zum Erwachsenwerden gezwungen, weisen die Frauen erschreckende Wissenslücken zur Bewältigung einfacher Alltagsprobleme auf. Ein weiterer Grund für die Scheu, den Schritt zu wagen. Rochane Falsafi-Amin stellt diese umso mehr fest, je isolierter die Frauen in ihren Familien gelebt haben. Sie ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychoanalyse. Frauen, die zu ihr kommen, leiden unter Depressionen, Schlaf- und Essstörungen und Angstzuständen - »allesamt Folgen von Abhängigkeitskonflikten«.
Ärger über deutsche Gleichgültigkeit
Doch meist geben sie die wahren Ursachen ihrer Leiden erst sehr spät und nur zögernd preis. Alle ihre Patientinnen in Berlin, soweit verheiratet, seien »organisierte« Ehen eingegangen. »Die Hälfte gegen den eigenen Willen.« Auch Rochane Falsafi-Amin glaubt deshalb an eine »riesige Dunkelziffer«.
Wer jemanden zur Ehe zwingt, kann wegen Nötigung, schwerer Körperverletzung, Misshandlung von Schutzbefohlenen oder Freiheitsberaubung verfolgt werden. Doch wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter. Ausländische Ehepartner haben in den ersten zwei Jahren nach der Heirat überdies kein eigenes, sondern ein vom Ehepartner abgeleitetes Aufenthaltsrecht. Nach einer Annullierung der Ehe zurück zur Familie geschickt zu werden, die diese Rückkehr als Schande interpretieren würde, ist ein weiterer Grund der Opfer, ihre Lage zu erdulden.
Anwältin Seyran Ates will deshalb eine Gesetzesänderung über Einzelkorrekturen hinaus. Sie plädiert für einen eigenen Straftatbestand der Zwangsehe. Nur so werde die Tiefe des Problems deutlich. »Alle machen ja mit«, empört sie sich über das fehlende Unrechtsbewusstsein der patriarchalischen Gesellschaften. Ehen, die durch Gewalt oder Drohungen erwirkt wurden, können innerhalb eines Jahres aufgehoben werden. Doch die meisten Opfer kommen erst nach Ablauf dieser Frist, wenn der Problemdruck unerträglich ist. »Dann können wir nur noch aufwändige Scheidungsverfahren einleiten«, so Ates.
Ein Teil ihres Unmuts entlädt sich daher über der Gleichgültigkeit auch der hiesigen Gesellschaft. Deshalb, weil die Situation der Betroffenen ausgeblendet, ja, durch ausländerrechtliche Hürden sogar verschärft wird. Aber auch, weil teilweise mit abendländischem Hochmut auf das Problem herabgesehen wird. So, als sei es nicht vor wenigen Generationen eines auch noch in Deutschland gewesen.
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