Wetter extrem - was heuer die Hitze ist, war vor einem Jahr die Flut.
Den Geschichten um die Jahrhundertflut an Elbe und Saale spürt ND in einer
Beitragsfolge nach.
Der Niedermarkt der Schuhmacherstadt Döbeln ist für die Verhältnisse einer Kleinstadt ungewöhnlich weitläufig. Rund um einen Brunnen, in dem eine barbusige Provinzschönheit einem großen Bronzestiefel entsteigt, streckt sich das Pflaster. Es wird gesäumt von Häusern, die eher bodenständig wirken, als in den Himmel zu wachsen. Trotzdem kann einem auf dem Platz der Weitblick abhanden kommen. »Wenn uns nicht gelegentlich jemand daran erinnert«, sagt Gisela Hitzschke, »dann sehen wir gar nicht, was sich hier seit dem letzten August getan hat.«
Gisela Hitzschke, eine schlanke und sportlich gekleidete Frau, der man die 60 Jahre nicht abnehmen mag, steht in ihrem Kaffee- und Teeladen hinter einer Glastheke, in der sich auf silbernen Tabletts schokoladenbraune Trüffelpralinen türmen. In den Regalen reihen sich Weinflaschen neben Buttergebäck, Kaffee und Tee. Ein aromatischer Duft kriecht in die Nase. Der Frau aber, die mit den Spezereien handelt, scheint die Empfänglichkeit für Genüsse vorläufig abhanden gekommen zu sein: »Nach diesem Jahr«, sagt Hitzschke, »sind wir nur noch müde.«
Ihre Kunden lässt die Ladeninhaberin, die auch ein Geschäft für Miederwaren und eine Boutique betreibt, von solcher Erschöpfung nichts spüren. Sie berät, plaudert und ist froh, dass die Menschen überhaupt wieder in die Döbelner Innenstadt kommen, um zarte Schokolade, feine Wäsche und elegante Kleider zu kaufen. Aber ein wenig scheint es Gisela Hitzschke zu ergehen wie den drei historischen Kaffeeschütten, die hinter der Theke die Blicke auf sich ziehen. Hinter den runden Glasscheiben locken dunkel geröstete Bohnen, doch an den Schütten können keine Kaffeetüten befüllt werden. In die Mechanik ist feiner Sand gekommen. Er will und will sich nicht entfernen lassen.
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Die Kaffeeschütten sind wie der Laden und die ganze Innenstadt Überlebende. Vor einem Jahr lagen sie in stinkendem Schlamm. Die Pralinen waren von den Strudeln der Mulde, die mit ihren zwei Armen das Zentrum der mittelsächsischen Kleinstadt wie eine Insel umschließt, weggespült worden. Den ganzen Tag hatte der Himmel über Döbeln und dem Erzgebirge seine Schleusen geöffnet. Am Abend sprang die Mulde aus ihrem Bett. Wie hoch sie anschwoll, zeigen noch manche Fassaden. Um das Mauerwerk zu trocknen, wurde der Putz abgehackt. Die Ziegel liegen bis weit über Augenhöhe frei.
Mit welcher Wucht der Fluss wütete, lässt eine Lücke in der Fassadenfront des Niedermarktes ahnen. Das einst dort stehende Haus wurde fortgeschwemmt. Anderswo widerstanden zwar die Mauern; Türen und Schaufenster aber hielten nur selten stand. Unter dem gefliesten Boden von Hitzschkes Kaffeegeschäft liegt eine große Steinplatte. Es bedurfte mehrerer Männer, um sie an ihren Platz zu hieven. In der Nacht des 12. August 2002 versetzte das aus dem Keller drückende Wasser die Platte samt der darauf stehenden Ladenbesitzerin und der Theke. »In diesem Moment«, sagt Hitzschke, »bekam ich es mit der Angst zu tun.«
Auf die Stadt Döbeln, die zuvor zu den Musterbeispielen für die gelungene Wiederbelebung von Innenstädten gehört hatte und für den bevorstehenden »Tag der Sachsen« zusätzlich gewienert worden war, hatte die Flut verheerende Auswirkungen. Zwar kam niemand in den Wassermassen um, was einem Wunder gleicht. Die Läden indes glichen nach der Flutnacht schwarzen, nassen Höhlen. Nachdem Planierraupen den zähen Schlamm weggeschoben hatten, türmten sich unbrauchbar gewordene Waren, Mobiliar und Dielenbretter in den Straßen. »Das war wie nach einem Krieg«, sagt Hitzschke. Dass jemals wieder Leben einziehen würde, vermochten nur die allergrößten Optimisten zu glauben.
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Wolfgang Müller hatte sich schon vor der Flut als Optimist erwiesen. Im Dezember 1991, als in der Döbelner Altstadt noch ein Flächenversuch dazu zu laufen schien, wie lange verwahrloste Gebäude dem Zahn der Zeit trotzen, kam er aus Unna an die Mulde und begann, Häuser zu sanieren. Von den Einheimischen gelegentlich ironisch als der Jürgen Schneider von Döbeln bezeichnet, hatte er 28 Gebäude auf Vordermann gebracht, wobei er im Unterschied zum Baulöwen Schneider, der halb Leipzig aufkaufte und dann eine spektakuläre Pleite hinlegte, solide zu finanzieren schien. Und weil Müller glaubt, dass für die Lebendigkeit einer Stadt das funktionierende Herz entscheidend ist, erwarb er nur Häuser auf der Muldeninsel.
Als der Fluss in Döbeln für einen Herzstillstand sorgte, kämpfte auch der Immobilienbesitzer Müller um das wirtschaftliche Überleben. 27 seiner Häuser wurden vom Wasser verwüstet. In welchem der Geschäftsräume ein Restaurant, die Buchhandlung oder das Textilgeschäft gesessen hatte, war nur noch am Inhalt der Müllcontainer zu erkennen. Was mit ihnen davongefahren wurde, war auch Müllers Geld. Den Gewohnheitsoptimisten beschlichen damals Zweifel: »Ich wusste nicht, ob ich das finanziell überstehe.«
Das Aufbegehren gegen die Bedenken schien den Unternehmer in eine Art Rausch versetzt zu haben. Er tauschte seine Camel-Hemden gegen eine Maurerkluft, stiefelte wie ein Feldherr zwischen Schuttbergen hindurch, organisierte, räumte auf und dirigierte Helfer. An die ersten Wochen kann sich Müller heute nicht mehr erinnern: »Ich bekam vieles nur beim Auftauchen mit.« Dazu war selten Zeit. Wollten er als Unternehmer und Döbeln als Geschäftsstadt das Unglück überleben, sagte er sich, dann »müssen die Läden zu Weihnachten wieder geöffnet sein«. Denn Mietausfälle würden nicht ersetzt, und Käufer, die einmal durch die Einkaufsparks von Leipzig oder Chemnitz gebummelt sind, wären für die Kleinstadt verloren.
Der Hauseigentümer, der auch im Gewerbeverein zu den treibenden Kräften gehört, drängte daher die Bauleute, Behörden und Ladeninhaber. Trockner wurden aufgebaut, neue Heizungen installiert, Türen und Fenster ersetzt. Während in anderen Städten die Geschäftsleute aus Containern verkauften, gab es im November in Döbeln erste Zeitungsanzeigen: »120 Läden warten auf Ihren Besuch«. Neue Inserate folgten; die Zahl der wieder eröffneten Geschäft war jedes Mal höher.
Heute ist der Döbelner Markt wieder so lebendig, wie das in einer Kleinstadt möglich ist. Dass es dazu gekommen ist, schreiben Kenner einem besonderen Geschäftsgeist zu, der die Stadt auszeichnet. Sie verweisen zudem darauf, dass in der Innenstadt nahezu alle Läden betroffen, ein Überleben daher auch nur gemeinsam möglich war. »Wir haben uns gegenseitig mitgerissen«, sagt Gisela Hitzschke, die nach 13 Jahren harter Arbeit zunächst alles hatte hinwerfen wollen.
Anteil an der Döbelner Wiederauferstehung dürfte aber auch der Elan von Menschen wie Wolfgang Müller gehabt haben. Anerkennung dafür beweist eine Episode aus dem letzten August. Müller, der zu seinen sportlichen Hemden oft einen italienischen Hut trägt, traf damals einen alteingesessenen Huthändler, der dem zugereisten Hausbesitzer aus dem Westen bis dahin eher misstrauisch begegnet war. Der ältere Herr sei in seinem Laden verschwunden und mit einer Kopfbedeckung aus eigener Herstellung wieder aufgetaucht, berichtet Müller. Seit dem Hochwasser kennen ihn die Döbelner nur noch mit seinem sächsischen »Ehrenhut«.
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Ohne viel geschenktes Geld freilich wäre die Stadt nicht wieder auf die Beine gekommen. »Wie Weihnachten« habe er sich gefühlt, als die Bedingungen für die Fluthilfe bekannt gegeben wurden, sagt Müller - zumindest bei der Förderung für Wohngebäude, an denen 80 Prozent des Schadens ersetzt werden: Das seien Konditionen »wie sonst nur in der Landwirtschaft«. Größeres Kopfzerbrechen bereitet ihm die Regelung, wonach bei Gewerberäumen nur 35 Prozent erstattet werden. Allein für drei seiner betroffenen Immobilien hat Müller einen Schaden von 450000 Euro errechnet.
Und selbst die Differenz zwischen 80 und 100 Prozent will bezahlt sein, sagt Günter Raschke. Dem 73-jährigen Rentner, den ND wie auch Gisela Hitzschke und Wolfgang Müller schon unmittelbar nach der Flut vor einem Jahr besucht hatte, gehört das Haus am Döbelner Markt 4. In der Flutnacht stand das Gebäude, in dem seine Großeltern einst das erste Kaffeehaus am Platze betrieben, bis knapp über die Parterrefenster im Wasser. In dem dicken Ordner, der heute die Briefwechsel mit Baufirmen, Handwerkern und der Aufbaubank enthält, liegt auch die Liste mit der Schadensberechnung. Unterm Strich stehen 99000 Euro.
»Ich kann froh sein, dass ich immer etwas auf die Seite gelegt habe«, sagt Raschke, der schon zuvor viel Geld in die Immobilie gesteckt hat. Das von den Großeltern auf die Eltern vererbte Haus war 1982 enteignet worden. Der Familientradition zuliebe ließ sich Raschke das Gebäude 1991 wieder übertragen, erneuerte Mauern, verlegte Leitungen, tünchte die Fassade. Ein Drogeriemarkt zog ein und ließ den Umstand ein wenig vergessen, dass nach Wohnungen keine übertriebene Nachfrage besteht.
Nach dem Hochwasser hat der 73-Jährige, dem die Erinnerung noch heute die Tränen in die Augen treibt, erneut die Ärmel hochgekrempelt. Statt wie geplant mit alten Schulkameraden in die Dresdner Semperoper zu fahren, hat er in Döbeln geschaufelt, aufgeräumt und gebaut. Vier Tage pro Woche fuhr er von seiner Chemnitzer Wohnung zum Haus. Auch der Schwiegersohn und andere Verwandte verbrachten bis weit in den Herbst jeden freien Tag auf der Baustelle.
Dass diese Arbeit bei der finanziellen Regulierung des Schadens nun nicht berücksichtigt wird, weil Eigenleistungen laut Förderbedingungen nicht angerechnet werden - dieser Umstand sorgt bei dem ansonsten gemütvollen Mann für Enttäuschung. »Wer alle Arbeit den Baufirmen überlassen hat, kommt besser weg«, sagt Raschke: »Das ist nicht gerecht.« Immerhin: Man ist davongekommen. Demnächst ist Klassentreffen. In der Semperoper gibt es Falstaff.
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Gisela Hitzschke will nicht mehr an die Monate voller Arbeit denken, die gerade in dem Moment über sie hereinbrachen, als sie eine neue Mitarbeiterin eingestellt hatte und sich mit 60 Jahren etwas mehr Ruhe gönnen wollte. Sie will nicht darüber grübeln, wie sie die halbe Million Euro Schaden verkraften soll, die ihr niemand ersetzt. Sie will sich auch nicht mehr ärgern über jenen Lieferanten, der ihr kurz nach dem Absaufen der gesamten, noch unbezahlten Winterkollektion mit Klage drohte, weil eine verschollene Rechnung nicht bezahlt war. Die Händlerin, deren Geschäfte von den Döbelnern zu den schönsten der Stadt gerechnet werden, würde sich viel lieber an den wieder auferstandenen Läden freuen. Sie will die Gespräche mit den Kunden genießen, die ihr die Treue halten, und sich von erstaunten Zugereisten gelegentlich darauf hinweisen lassen, wie schön die sächsische Stadt wieder geworden ist.
Wenn da nicht die Angst wäre, die seit ein paar Wochen jede Nacht wiederkommt, mit Schlaflosigkeit und Beklemmungen. Ein Psychologe hat ihr erklärt, dass Menschen nach Katastrophenerfahrungen in eine Art Schockzustand verfallen, der über Monate anhält. Es ist ein Schutzmechanismus, der das Überleben und das Aufrappeln ermöglichen soll. Dann aber kommt die Erinnerung zurück. Wenn die Arbeit auf den Straßen geschafft ist, beginnt die Arbeit im Inneren.
Unterkriegen lassen wird sich Gisela Hitzschke nicht - ebenso wenig wie all die anderen Geschäftsleute, von denen nicht wenige im Vertrauen erzählen, dass sie diese Angst ebenfalls kennen. Sie werden weitermachen, auch wenn sie den Dankeschön-Festen, die jetzt entlang der Mulde gefeiert werden, wenig abgewinnen können. Vom Hochwasser sind stärkere Spuren geblieben, als ein paar unverputzte Fassaden ahnen lassen. Im Kopf geht die Flut weiter.
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