Das Prinzip Fortschritt
Umfassende Biografie zeigt Rudolf Virchow im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik
»Virchow gehörte einer Generation an«, schreibt der Berliner Historiker Constantin Goschler, »die den Glauben an das "naturwissenschaftliche Zeitalter" mit einem ungebrochenen Fortschrittsoptimismus verband, der am Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend zum Gegenstand der Kulturkritik wurde.« In einer zwar voluminösen, aber gut lesbaren Biografie über den »Papst der deutschen Medizin« hat Goschler dessen vielschichtiges Werk zum Anlass genommen, um das Wechselspiel von Wissenschaft und Politik zwischen Vormärz und Kaiserreich genauer zu beleuchten.
Denn anders als die meisten berühmten Gelehrten jener Zeit, die, wenn überhaupt, erst als gutbetuchte Ordinarien leise Kritik an den sozialen Verhältnissen übten, attackierte Virchow bereits mit 27 Jahren offen die preußische Sozialpolitik, die er mitverantwortlich machte für die verheerende Typhus-Epidemie 1846/47 in Oberschlesien. Er begrüßte die Revolution von 1848 und nahm - trotz seiner »behaglichen Stellung« als Prosektor an der Charité - am Barrikadenkampf in Berlin teil. Später bedauerte er diesen Schritt und spielte sogar mit Selbstmordgedanken, da nach dem Scheitern der Revolution auch seine akademische Karriere beendet schien. Doch Virchow hatte Glück und wurde 1849 als Professor für pathologische Anatomie an die Universität Würzburg berufen. Zuvor freilich musste er dem bayerischen König schriftlich versichern, sich nicht mehr radikal-politisch zu betätigen. Er hielt sich daran und legte so den Grundstein für seine Rückberufung an die Berliner Universität im Jahr 1856.
Befreit von depressiven Selbstzweifeln, die ihn während der Ära der Restauration politisch gelähmt hatten, trat Virchow 1859 der Berliner Stadtverordnetenversammlung bei. 1862 wurde er in den Preußischen Landtag gewählt, wo er sich als Abgeordneter der liberalen Fortschrittspartei hitzige Rededuelle mit Otto von Bismarck lieferte. Während dessen Politik häufig auf Geheimdiplomatie und gezielter Täuschung beruhte, plädierte Virchow für mehr Öffentlichkeit bei politischen Entscheidungen. Und er war überzeugt, so Goschler, dass allein die Wissenschaft in der Lage sei, objektive Wertmaßstäbe für die Gesellschaft zu begründen. Bisweilen verglich er die Wissenschaft sogar mit einem magischen Speer, der die Wunden, die er schlägt, selbst wieder heilt.
Ohne dem Rassismus seiner Zeit gänzlich zu entsagen, war Virchow bemüht, anknüpfend an die Naturwissenschaften ein liberales Menschenbild zu entwerfen. Mit ganzer Autorität widersetzte er sich dem Versuch, die Diskussion über den Antisemitismus auf das Gebiet der Anthropologie zu verlagern und verzögerte so eine Entwicklung, die im 20. Jahrhundert unheilvoll eskalierte. Auch lehnte er es ab, Menschen in »höhere« und »niedere« Rassen einzuteilen, und betonte stattdessen, dass alle Menschengruppen gleichermaßen zum kulturellen Fortschritt befähigt seien. Und kein gebildeter Europäer werde sich dieser Einsicht künftig verschließen können, hoffte er - vergeblich leider, wie man weiß.
Constantin Goschler: Rudolf Virchow. Mediziner, Anthropologe, Politiker. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien. 556 Seiten, 39,90 Euro
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