Den letzten Brief, von dem wir wissen, schickt sie in die Schweiz zur »lieben, kleinen Schwester« Hilde Wenzel. Sie beginnt ihn am 20. Februar 1943 und beendet ihn erst am nächsten Tag. Sie ist müde, erschöpft und sehr einsam. Die einzige Freude, die sie noch hat, ist ihr Morgenspaziergang mit der Erinnerung an Hamburg, an das Alsterbecken und den »malvenfarbenen Himmel« darüber. Jetzt, mitten in Berlin, verpflichtet zur Zwangsarbeit, eingepfercht in eine Charlottenburger Fabrik, ist die Welt noch kälter und düsterer geworden. Manchmal ist ihr wieder nach Schreiben zumute. »Mein letztes kleines Werk, eine Erzählung«, erklärt sie, »schuf ich vor genau einem Jahr, und nun, denk ich, wird es, falls es sich formt, wieder eine Erzählung werden. Ich bin eigentlich in der richtigen Stimmung, niedergeschlagen, bedrückt, daß ich als Dichterin im Augenblick gar nichts kann.«
Sie ist zu ihrer Geschichte nicht mehr gekommen. Am 27. Februar wird sie, im Zuge der so genannten Fabrikaktion, verhaftet und am 2. März mit dem 32. Osttransport nach Auschwitz deportiert. Von da an fehlt von ihr jede Spur. Niemand weiß, wie und unter welchen Umständen sie ums Leben kam. Zwei Monate später, am 2. Mai 1943, wird das Amtsgericht Berlin-Schöneberg sie für tot erklären. Als Sterbedatum nennt die Behörde den 2.März.
Fünfzig Jahre danach, als das Schiller-Nationalmuseum in Marbach an Gertrud Kolmar mit einer großen Ausstellung erinnerte (die anschließend auch in Berlin zu sehen war), hieß es im begleitenden »Marbacher Magazin«, einem profunden, glänzend dokumentierten Doppelheft, das Ansehen der Dichterin sei in den letzten Jahrzehnten sichtlich gewachsen. Es war nicht übertrieben. Schon 1947 brachte S. Fischer, herausgegeben von Hermann Kasack, den Gedichtzyklus »Welten« heraus. Wahr ist aber auch, dass eine erste, von Peter Suhrkamp geplante Ausgabe des »Lyrischen Werks« zunächst auf der Strecke blieb. Das Projekt musste 1949 zurückgestellt werden. Die Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, die gebeten worden war, einen Teil der Druckkosten zu übernehmen, sperrte sich. Man lehnte ab und scheute dabei vor grotesken Argumenten nicht zurück. Gertrud Kolmar, hieß es, gehöre nicht in eine Buchreihe, die »Verschollene und Vergessene« durchsetzen wolle. Sie sei mit ihren Dichtungen zu Lebzeiten kein »festumrissener Begriff« geworden. Peter Wenzel, der Schwager der Dichterin, der mit Hingabe für einen umfangreichen Nachlassband kämpfte, zog sich nach diesem Votum resigniert zurück. Er wanderte nach Brasilien aus. Dass der Band 1955 doch noch erschien, war allein dem Umstand zu danken, dass Kasack zum Präsidenten der Akademie gewählt wurde und das Projekt gleich noch einmal auf die Tagesordnung setzte. Diesmal, zum Glück, stimmten die Mitglieder zu.
Die zweite, etwas umfangreichere Kolmar-Sammlung edierte fünf Jahre später Friedhelm Kemp im Kösel-Verlag. Seitdem sind Gedichte Gertrud Kolmars (sowie ihr Roman »Die jüdische Mutter«, der gerade wieder in der Bibliothek Suhrkamp erschienen ist) in verschiedenen Ausgaben und Periodika publiziert worden, auch bei Aufbau und im Buchverlag Der Morgen. Die große kritische Edition, eine dreibändige Ausgabe des Wallstein-Verlages, gründlich kommentiert, kommt freilich erst jetzt, 60 Jahre nach dem Tod der Dichterin. Sie ist das Beste, was in Sachen Kolmar bisher bewerkstelligt wurde. Regina
Nörtemann, die ihre Qualitäten schon vor Jahren demonstriert hat, als sie, ebenfalls bei Wallstein, die zwei schweren Bände mit dem Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Gleim vorlegte, eine editorische Leistung von Rang, hat jetzt zum ersten Mal dafür gesorgt, dass man Gertrud Kolmar so lesen kann, wie sie es selber gewollt hat. Die Gedichte, so vollständig noch nie gedruckt, stehen in der von ihr bestimmten Reihenfolge und mit den authentischen Überschriften, und natürlich sind auch die späteren Eingriffe in Orthografie und Zeichensetzung rückgängig gemacht worden.
Mit diesen drei Bänden, die auf dem Rücken der Umschläge groß das Kolmar-Porträt von 1928 wiedergeben, krönt das Göttinger Verlagshaus seine intensiven und rühmenswerten Bemühungen um das Werk einer Dichterin, die Kenner längst in eine Reihe mit Nelly Sachs und Else Lasker-Schüler stellen. Freilich: In dieser Reihe ist sie die Unbekannteste geblieben. Lags daran, dass sie so scheu, so zurückgezogen lebte? Dass in ihren bilderreichen Versen manches Rätselhafte steht? Dass es so lange dauerte, bis man sich ein Bild machen konnte von ihrem Dasein, ihren Interessen, ihren Nöten? Die Informationen waren spärlich. Ein paar Daten, ein paar Zitate, Gedichte, deren biografischer Hintergrund unkenntlich blieb. Verhallt die rühmenden Stimmen von einst, die Worte Max Rychners und ihres Vetters Walter Benjamin, die Bemühungen von Kurt Pinthus, ihr ein Publikum zu verschaffen. Sicher, Poeten wie Bobrowski haben sie geliebt, Kritiker warben für sie, und auch an wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Werk hat es nie gefehlt. Zu mehr als einem bescheidenen Nachruhm hat es nicht gereicht.
Doch dann, irgendwann in den 60er Jahren, tauchte eine junge Frau auf, die von Gertrud Kolmar gleich fasziniert war. Ein Deutschlehrer hatte sie auf die Dichterin hingewiesen, und seitdem ist sie von ihr nicht mehr losgekommen. Sie las und sammelte alles Erreichbare, sie suchte den Kontakt zu jenen, die die Kolmar gekannt haben, und sie übernahm schließlich den Nachlass. Die Marbacher Ausstellung wäre ohne ihren Enthusiasmus, ohne ihre Kenntnisse nicht zu Stande gekommen. Ihr, Johanna Woltmann, verdanken wir schließlich auch die (inzwischen vergriffene) Sammlung der geretteten Briefe und die erste Biografie, ein Buch, das 1995 erschien und mittlerweile zur Pflichtlektüre aller gehört, die wissen wollen, wer Gertrud Kolmar war.
Sie kam, geboren 1894 in der Mitte Berlins, aus dem gebildeten Bürgertum. Ihr Vater, Ludwig Chodziesner, Rechtsanwalt und später Justizrat, dominant und erfolgreich, ein selbstbewusster, prominenter Mann, hat in seinem Haus für ein musisches Klima gesorgt. In seiner Freizeit schrieb er Kurzgeschichten, die sogar gedruckt wurden, und er sorgte auch fürs literarische Debüt seiner ältesten Tochter. Der Zufall brachte es mit sich, dass ihm eines Tages Blätter mit Gedichten in die Hände fielen, die sie, sonst sehr vorsichtig, ja ängstlich, vergessen hatte, im Schreibtisch zu verbergen. Er trug den Fund zum Verleger Egon Fleischel, und der machte tatsächlich einen Band daraus. Er erschien unter dem Verfassernamen Gertrud Kolmar Ende 1917.
Da ist sie gerade 23 Jahre alt. Sie hat eine Haus- und landwirtschaftliche Frauenschule bei Leipzig absolviert, in einem Kinderhort gearbeitet, zwei Diplome als Sprachlehrerin erworben, und sie hat sich während des Krieges in einen Offizier verliebt. Man weiß nicht viel über diese Beziehung, die in mancher Gedichtzeile ihre Spuren hinterlässt, Schwester und Jugendfreundin malen sie als romantisches Bild, aber dann endet doch alles in einer Tragödie, im Schwangerschaftsabbruch und einem Nervenzusammenbruch, der wohl ein Selbstmordversuch gewesen ist. Die verlässlichen Nachrichten sind dürftig. Gertrud Kolmar lebt mit einer Tarnkappe, unauffällig, fast unsichtbar, und wenn sie doch einmal den Schritt in die Mitte wagt, zieht sie sich im nächsten Moment schon wieder zurück. O ja, sie träumt von einem festeren Ich und schreibt den Traum in ihre Dichtung, sie will sich nicht bloß verbergen, sie sucht Liebe und sehnt sich nach einem Kind, doch die Sehnsüchte erfüllen sich nicht. Es gelingt nur das Werk. Aber schon am Anfang unterlässt sie beinahe alles, um auf sich hinzuweisen. Den Band von 1917, berichtet Johanna Woltmann, übergibt sie der Schwester mit einer Widmung, in der sie nicht Gertrud ist, sondern »die Verfasserin«, und an dieser unglaublichen Bescheidenheit ändert sich auch späterhin nichts. Noch zuletzt, als Zwangsarbeiterin, erzählt sie einmal von zwei Arbeitskolleginnen, einer Opernsängerin und einer Schauspielerin. »Lauter Berühmtheiten«, sagt eine dritte zu ihr. »Bloß wir beide sind nichts und können nichts.« Und sie, Gertrud Kolmar, schließt mit dem Satz: »Ich hörte das an, ohne mit der Wimper zu zucken.«
Sie hat nach ihrem Erstling noch zwei weitere Gedichtbände veröffentlichen können: 1934 die Sammlung »Preußische Wappen« und 1938 »Die Frau und die Tiere«, aber da ist es schon zu spät. Die Pogrome vom November 1938 verhindern, dass das Büchlein verkauft werden kann. Es wird eingestampft. Doch es kommt noch schlimmer. »Wir haben gestern unser Haus verkauft«, schreibt Gertrud Kolmar am 24. November 1938 ihrer Schwester, die sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht hat und seit Anfang des Jahres in der Schweiz ist. Der Satz, so lapidar formuliert, klingt harmlos, doch er beschreibt eine Katastrophe. Man hat Vater und Tochter Chodziesner gezwungen, den Besitz aufzugeben und ins so genannte Jüdische Viertel von Berlin-Schöneberg zu ziehen. Dort verbringt Gertrud Kolmar die letzten fünf Jahre, belästigt vom Lärm der zahlreichen Untermieter, eingeschnürt in ein Leben, das ihr kaum die Luft zum Atmen lässt.
Vermutlich hat sie nie ernsthaft erwogen, ins Exil zu gehen wie die Schwester. Möglich, dass sie die Gefahr unterschätzt hat. Der Verleger Victor Otto Stomps, der sie 1938 noch einmal besucht, hat 1956 berichtet, dass sie jede Stellungnahme zu den Ereignissen ablehnte, und seinen Vorschlag, »eine Emigration noch zu versuchen«, habe sie mit der Bemerkung zurückgewiesen, »dass sie in Deutschland geboren sei und dort bleiben wolle«. »Aber die Zukunft«, schreibt Gertrud Kolmar, »ist dunkel. Und selbst wenn es mir möglich wäre, bald von hier fortzukommen (ausgeschlossen ist das nämlich nicht), so darf ich doch von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machen; denn ich kann und will Vati gerade jetzt nicht allein lassen ...« Der Vater, alt und krank, hat nur noch sie, und sie pflegt ihn, bis ihn die Nazis im September 1942 nach Theresienstadt verschleppen. Dort stirbt er im Februar 1943.
Nur einmal noch schöpft Gertrud Kolmar ein bisschen Hoffnung. Mitte der 30er Jahre ist sie einem Mann begegnet, einem Dichter, der ihr schrieb, nachdem er Verse von ihr gelesen hatte. Plötzlich ist die alte Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit wieder da, sie fühlt sich mitten im schönsten »Spätsommer«, aber sie sieht ihn im Grunde nur ein einziges Mal. Sie fährt nach Hamburg und bleibt drei Tage, aber er, der Angebetete, erschrickt. Er hat sie sich anders vorgestellt. »Sie war«, meinte er später, »eine eher unauffällige Erscheinung und hat nicht mehr aus sich gemacht, als sie wirklich darstellte. Sie war ansprechend und bescheiden. Man mußte ein Bild ihres Innenlebens haben, um sie schätzen zu können.« Eine zweite Begegnung, im Dezember 1939, dauert höchstens 15 Minuten. Dann bricht Gertrud Kolmar, aller Hoffnungen beraubt, schon fluchtartig auf.
Ihr blieb nur das Werk. In den Gedichten dokumentierte sie die Trauer über ihre unglücklichen Liebeserfahrungen und das Kind, das ihr versagt blieb, die quälende Suche nach der eigenen Identität, ihre Ängste und Visionen. Sie holte weit aus, beschwor Mythen und Geschichte, vertiefte sich, kaum dass Hitler triumphiert hatte, in die Ära Robespierres, huldigte der Natur, streifte den Alltag und fasste das alles in formvollendete, streng gebaute Strophen, die die unendliche, grandiose Bilderfülle kaum fassen können. Sie war, wenn sie Briefe schrieb, auf der Hut, vermied seit 1933 jede direkte politische Äußerung. Doch als sie zwischen dem 18. August und 25. Oktober 1933 an ihrem Zyklus »Das Wort der Stummen« arbeitete, gab es keine Vorsicht mehr, keine Furcht vor Entdeckung. Sie machte die Barbarei, das Unrecht, die Verfolgung der Juden und Kommunisten, die Konzentrationslager zum Thema einiger Gedichte. Die Handschrift, sofort aus dem Haus gegeben und versteckt, tauchte erst in den 70er Jahren wieder auf. Uwe Berger hat den Zyklus, über den Aufschlussreiches auch in der Aufsatzsammlung »Widerstehen im Wort« steht, 1978 erstmals im Buchverlag Der Morgen vollständig publiziert.
Jetzt, in der vorbildlichen Edition des Wallstein-Verlages, ist dieses eindringliche Zeugnis des Leidens und des Widerstandes genauso zu finden wie die frühen Verse, die wenigen Gelegenheitsgedichte und all die anderen maßgeblichen Sammlungen, die schon eine Weile vergriffen sind. Regina
Nörtemann hat für ihren ausführlichen, peniblen und glänzend informierten Kommentar, der sich auch den Rätseln dieser Dichtung stellt, sogar nach jener seltenen, damals gerade erst gezüchteten Rose geforscht, über die Gertrud Kolmar in ihrem Gedicht »Die Rose des Kondors« schrieb. Gründlicher kann man gar nicht sein.
Gertrud Kolmar: Das lyrische Werk. Hg. von Regina Nörtemann. 3 Bde. im Schuber, zus. 1225 S., geb., 98 EUR.
Johanna Woltmann: Gertrud Kolmar. Leben und Werk. 356 S., geb., 29 .
Widerstehen im Wort. Studien zu den Dichtungen Gertrud Kolmars. Hg. von Karin Lorenz-Lindemann. 184 S., brosch., 19 EUR.
Alle im Wallstein Verlag.
Gertrud Kolmar: Die jüdische Mutter. Bibliothek Suhrkamp. Mit einem Nachwort von Esther Dischereit. 215 S., geb., 14,80 EUR.