Vassilis Tod im Wunderland

Schwarzarbeit und Ausbeutung - Hintergründe eines Unfalls in Kalkar

  • Susanne Härpfer
  • Lesedauer: 6 Min.
Nicht nur die Hanauer Plutoniumfabrik steht auf der Wunschliste der chinesischen Regierung. Schon vor Jahren wollte sie den Kern des 1991 aufgegebenen Schnellen Brüters in Kalkar (Nordrhein-Westfalen) kaufen. Teile des niemals ans Netz gegangenen AKW wurden von Schwarzarbeitern aus Kasachstan demontiert. Ein erschreckender Fall von Schwarzarbeit ist der von Vassili.
Nachts hatten sie manchmal noch nicht einmal Taschenlampen. Sie mussten sich mit Streichhölzern Licht machen. Trotzdem haben sie in 20 Metern Höhe gearbeitet - bis »es« passiert ist, erzählt Nadeshda Jevstegenev. »Es« - das ist der Unfalltod ihres Mannes Vassili. Während er ohne Helm und ohne Schutz mit einem Schweißgerät arbeitete, löste sich das Rohr, auf dem er saß, und Vassili stürzte im Monat November des Jahres 2000 in die Tiefe.
Was wie eine Schilderung aus einem Dritte-Welt-Land klingt, geschah mitten in Deutschland, in dem heutigen Vergnügungspark »Kernwasser Wunderland« in Kalkar. Das dortige Atomkraftwerk vom Typ »Schneller Brüter« ging nie ans Netz und machte ganz nebenbei auch die jetzt nach China zu entsorgende Hanauer Plutoniumfabrik überflüssig. 1995 kaufte der Holländer Henny van der Most den Meiler in Kalkar und begann, ihn in ein Familienvergnügungsparadies zu verwandeln. Auf einem Teil des Geländes fahren heute Kinder Karussell, besuchen ihre Eltern Restaurants oder feiern Gruppen Betriebsfeste. Unmittelbar daneben stehen noch immer alte Teile der Atomruine. Die sollen ebenfalls umgebaut werden.

Eklatante Verstöße gegen den Arbeitsschutz

Vassili starb in diesem Komplex. Die Umstände seines Tods wurden erst vor dem Amts-, dann vor dem Landgericht in Kleve verhandelt. Das kam in zweiter Instanz zu dem Schluss, dass in eklatanter Weise gegen den Arbeitsschutz verstoßen wurde und verurteilte den Abbruchunternehmer Jakob D. zu 2250 Euro wegen fahrlässiger Tötung. Die Strafe fiel so gering aus, weil sie sich nicht nach der Schwere der Tat richtet, sondern nach dem Einkommen. Jakob D. gab an, Sozialhilfe zu beziehen. Während anderen Sozialhilfeempfängern bei vermutetem Missbrauch Detektive hinterspüren, hat die Angaben von Jakob D. allerdings offenbar niemand überprüft, obwohl die Ermittler Hinweise hatten, dass er Geschäfte mit Rotterdam, mit Iran und der Ukraine machen soll. Selbst die 2250 Euro Strafe waren ihm zu viel, D. ging in Revision. Das Düsseldorfer Oberlandesgericht (OLG) bestätigte jetzt aber seine Verurteilung.
Während der Prozesse verschwand das Polizeivideo auf ungeklärte Weise, das die Zustände auf der Baustelle zeigte. »Es war dunkel. Wenn wir Türen öffneten, standen wir plötzlich vor sechs Meter tiefen Abgründen, die nicht gesichert waren. In 20 Metern Höhe - also dort, wo der Tote gearbeitet hat - gab es nur schmale Laufgänge. »Wir haben weder Gitter noch Gurte oder Absicherungen gesehen«, schilderte ein Polizeibeamter den Unfallort vor Gericht. Jakob D. behauptete zunächst, Vassili sei Praktikant gewesen. Wie er in der Nacht auf die Baustelle gekommen sei, das könne er sich nicht erklären. Dann ließ er seinen Anwalt angeben, es habe Sicherungen gegeben. »Das war ein Klettergeschirr vom Freizeitpark«, korrigierte Birte Schulz, Ingenieurin der Bauberufsgenossenschaft und Gutachterin im Verfahren. Ihre Expertise führte wesentlich zur Verurteilung von Jakob D.

Am Anfang: eine Leiche ohne Papiere

Am Anfang der Geschichte gab es nur eine Leiche, für die keine Papiere aufzutreiben waren. »Wir wurden morgens um sechs in das ehemalige Kernkraftwerk von Kalkar gerufen«, erinnert sich Polizeihauptkommissar Heinz van Baal. Dort fanden er und seine Kollegen einen toten Mann. »Angeblich kannte niemand den Toten«, berichtet der Fahnder. Das erschien ihm schon sehr ominös. Kurz bevor die Leiche anonym bestattet werden sollte, meldete sich eine Frau aus Kasachstan, die ihren Mann vermisste. Der Tote sei ihr Mann, sagte sie. So erfahren die Ermittler, dass Vassili zusammen mit etlichen anderen nach Deutschland geschleust worden war, um Teile des AKW Kalkar zu demontieren. Sie erhielten Hinweise über eine Wohnung, in die die 20 illegalen Arbeiter zusammen gepfercht waren. »Die Betten wurden 24 Stunden genutzt, die Arbeiter haben sich mit dem Schlafen abgewechselt«, schildert der ehemalige Hausmeister Johannes van der Linden die Zustände. Dort hatte auch Jakob D. sein Büro.
»Die Illegalen wurden ausgebeutet«, fasst Wolfgang Packmohr vom Hauptzollamt Duisburg zusammen. »Sie haben rund 2,50 Euro in der Stunde verdient.« Deshalb verurteilte das Amtsgericht Duisburg Jakob D. Ende September 2003 zu einem Jahr und neun Monaten auf Bewährung - »wegen der ausbeuterischen Beschäftigung von Ausländern ohne Arbeitsgenehmigung und wegen der Hinterziehung von Sozialabgaben«, wie die Urteilsbegründung lautet. Da half es auch nicht, dass sich Jakob D. durch dieselbe Kanzlei wie Helmut Kohl vertreten ließ.
Vassili starb am 16. November 2000. Erst drei Jahre später ergingen die Urteile. Jakob D. war dabei offensichtlich nur ein Rad im Getriebe. Er arbeitete als Subunternehmer für den Holländer André Bakker von der Firma Alers. Der wiederum agierte als Subunternehmer für Henny van der Most - jenen Holländer, der das Kernkraftwerk Kalkar gekauft hatte und auch in seinem Heimatland Vergnügungsparks, Hotels und Gaststätten betreibt. In Holland brannte sein Vergnügungspark »Bonte Wever« ein halbes Jahr nach Vassilis Tod vollständig ab. Dabei kam raus: Seit Errichtung des Parks bis zum Brand war über 20 Jahre lang eklatant gegen Brandschutzbestimmungen verstoßen worden. Es gab in »Bonte Wever« keine Brandschutzmauern, es fehlten Notausgänge und der Rauchabzug war unzureichend.
Das fand der holländische Journalist Huub Jaspers heraus, der gemeinsam mit dem Fernsehsender WDR die Hintergründe des Todesfalls in Kalkar recherchierte. In Zeitungsartikeln kokettierte van der Most damit, selbst schwarz gearbeitet zu haben. Konfrontiert mit den Zuständen auf seiner Baustelle im »Kernwasser Wunderland«, redete sich van der Most heraus, er habe von nichts gewusst. Bei Nachfragen kann er sich noch nicht einmal mehr an seinen langjährigen Sub-Unternehmer Bakker erinnern.
Filmaufnahmen, die zwei Monate vor Vassilis Tod entstanden waren, zeigen die groben Verstöße gegen den Arbeitsschutz. Mittendrin: der Besitzer des »Kernwasser Wunderlands« Henny van der Most. Die Mängel hätten ihm, sagt einem der gesunde Menschenverstand, auffallen, und er hätte sie abstellen müssen. Stattdessen beschwerte sich der Unternehmer in Sachen Vergnügen auch noch lauthals über die vielen Vorschriften in Deutschland.

Prozesse um Rente und Entschädigung

Nach Vassilis Todessturz wurde das Gebäude, in dem das Unglück passierte, gesperrt. Wegen Baugefährdung. Das Gebäude drohte einzustürzen, eine tragende Mauer war entfernt worden. Baugefährdung ist ein Straftatbestand. In einem solchen Fall muss von Amts wegen ermittelt werden, auch gegen den, der den Auftrag gegeben hat. Das soll nach Aussagen von einem deutschen, einem holländischen und einem kasachischen Zeugen Henny van der Most gewesen sein. Der bestreitet dies. Im Gegenteil, er habe die fraglichen Gebäude an den Mann verkauft, an den er sich zuvor nicht erinnern konnte: André Bakker. Der versichert jedoch an Eidesstatt, nur das Inventar erworben zu haben, und nicht die Gebäude. Das Grundbuch in Kleve gibt ihm Recht. Wem die Gebäude gehören, ist wichtig für das Baurecht. Denn das besagt eindeutig: Verantwortlich ist der Bauherr, nicht sein Unternehmer - also nicht Bakker und auch nicht der Subunternehmer Jakob D. Die Staatsanwaltschaft Kleve prüft bis heute, ob sie überhaupt wegen Baugefährdung ermittelt hat oder ob sie damit beginnen muss. Unter Umständen könnte sie wegen Untätigkeit belangt werden.
Und die Witwe Nadeshda Jevstegenev? Der wurde zwar die Beerdigung bezahlt - von einer Reiseversicherung. Doch um eine Rente und eine Entschädigung muss sie von Kasachstan aus noch einen Prozess führen gegen deutsche Berufsgenossenschaften. Und das, obwohl auch illegal Beschäftigten und ihren Angehörigen rechtlich gesehen eine Rente und eine Entschädigung zustehen. Der Düsseldorfer Anwalt Rolf Battenstein hat wegen Untätigkeit jetzt Klage eingereicht gegen die Bauberufsgenossenschaft in Wuppertal und gegen die Düsseldorfer Berufsgenossenschaft Maschinenbau und Metall. Die Berufsgenossenschaften weigern sich zu zahlen. Ihre Begründung: Vassili sei selbstständiger Unternehmer gewesen.

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