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Die Sitten verfallen, aber nichts muß doch so bleiben, wie es ist

Gespräch mit dem Ethiker Prof. ERNST LUTHER, Halle, zu Fragen der Lebensbewältigung: „Wir müssen unser Selbstbewußtsein verteidigen“

  • Lesedauer: 3 Min.

Das Gespräch mit Ernst Luther, dem Ethik-Professor aus Halle, findet in einem von Büchern und Zeitschriften überwucherten Zimmer seiner Wohnung in Halle-Neustadt statt. Der Mann, dessen erste Promotionsschrift 1961 die „Kritik der philosophischen Grundlagen der medizinischen Anthropologie des Freiherrn Viktor von Weizsäcker“ zum Thema hatte, schrieb 1970 seine zweite Doktorarbeit über „Ärztliches Ethos und ärztliche Ethik im Lichte der marxistischleninistischen Philosophie“. Er war ein ebenso gesuchter Diskussionspartner auf internationalen wissenschaftlichen Kongressen wie Autor einschlägiger Zeitschriften. Aber gerade das und seine „menschliche Schwäche“, sich vier Jahrzehnte von Herkunft und Heimat ohne Widerstand fesseln zu lassen, war Grund, ihn aus seinem Lehramt für Ethik im Bereich der Medizin an der Halleschen Martin-Luther-Universität zu entfernen - und trotz Protesten aus aller Welt gleich noch den Lehrstuhl in den Sperrmüll der Nachwendegeschichte zu werfen.

Einen „gefeuerten“ Universitätsprofessor nach der Ethik der Abwicklung zu befragen, grenzt fast an Zynismus?

Um es mit Friedrich Schorlemmer zu sagen: „.Wir erleben, wir erleiden, wir genießen die normative Kraft des Faktischen.“ Normenethik eben, die wir aus unserer sozialistischen Vergangenheit kennen und ebenso kritisch beurteilen müssen. Das Werkzeug hat nur seine Anwender gewechselt. Das gesinnungsethische Begründungsmuster ist einfach: die DDR war ein Unrechtsstaat, die Nähe zu ihm fordert Abstrafung. Die „Erneuerung“, „Evaluierung“ und „Abwicklung“ ist eine sittlich notwendige Tat, die Akteure sind Ehrenmänner.

Wie ist es überhaupt um die Ethik unserer Tage bestellt? Alles muß sich vor allem rechnen

Ja, Freiheit soll sich mit Hauen und Stechen im Wettbewerb durchsetzen. Gängige Worte sind heute: „Du mußt deine Ellenbogen gebrauchen“, „verteidige deine Position mit allen Mitteln“, „verkaufe dich nicht unter Wert“, „du mußt rücksichtslos sein“ Vorteilsdenken wird zur vorherrschenden Denkungsart, Ethik wird eingetauscht gegen Ersatzinstrumente zur Lebensbewältigung. Oder sie wird mit einer Mischung von populärer Psychologie und Soziologie so getrimmt, daß sie als Begründung für die ganz persönlichen Normative gelten kann. Das betrifft sowohl den niedrigen, ausschließlich von materiellen Gesichtspunkten getriebenen Hang, sich in den Vordergrund zu drängen, sich Macht zu erobern, Besitz zu schaffen, aber auch das Verlangen nach einer gerechten Selbstbewertung.

Lassen die sozialen Bedingungen im Lande eigentlich noch Solidargefühl und Nächstenliebe zu?

Generell würde ich Ihre Frage bejahen. Die sozialen Bedingungen im Lande lassen sittliches Wollen und Handeln durchaus zu. Es entwickelt sich auf dieser für viele Menschen komplizierten Basis sogar ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl. Vor allem als Protesthaltung. Das Gefühl, ein Ossi zu sein, kann freilich umschlagen in Nostalgie, aber aus ihr spricht auch ein bestimmter Stolz: Wir haben hier Kindergärten gehabt, und wir müssen sie verteidigen. Wir haben selbstbewußte Frauen gehabt, wir müssen unser aller Selbstbewußtsein verteidigen.

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