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Wi(e)der ein Land der Großgrundbesitzer

In Mecklenburg-Vorpommern stehen 750 000 Hektar Grund und Boden zur Disposition

  • Lesedauer: 4 Min.

Von LUTZ SCHERLING, Schwerin

Gestern abend trafen sich Helmut Kohl und Michail Gorbatschow und redeten (auch) über die Bodenreform. Sie werden sich gewiß arrangieren. Ersterer braucht erst einmal Ruhe für den Wahlkampf. Letzterer möchte es mit niemandem verderben, wer weiß, wen man wozu noch braucht. Mit den Äußerungen Gorbatschows wurden die Auseinandersetzungen um die künftigen Eigentumsverhältnisse in der Landwirtschaft neu belastet.

In den zurückliegenden vier Jahren wurde der Streit selten - vielleicht noch in Brandenburg - mit solcher Emotion geführt wie in Mecklenburg-Vorpommern. Kein Wunder, stehen doch in dem agrarisch geprägten Land nahezu 500 000 Hektar land- und weitere 250 000 Hektar forstwirtschaftliche Flächen zur Disposition. Dieser ehemals volkseigene Grund und Boden stammt aus der Bodenreform und wird durch die Treuhandanstalt bzw deren Bodengesellschaft privatisiert.

Mit Einigungsvertrag und Artikel 143 des Grundgesetzes wurde die Bodenreform als historisches Ergebnis des zweiten Weltkrieges anerkannt. Seither wird der Einigungsvertrag in der Bodenfrage torpediert. Das Objekt der Begierde der Erben und Erbeserben der Junker und Großgrundbesitzer sowie kapitalkräftiger West-Landwirte sind eben die Bodenreformflächen.

Eine eigenständig bestimmte Agrarstrukturpolitik wird zuallererst mit der Bodenfrage entschieden. Sind die „alten Herren“ erst zurück, haben sie bald auch wieder das Sagen in

den Dörfern. Die PDS tritt vehement gegen einen Rechtsanspruch auf Rückerwerb von Bodeneigentum ein, sanktioniert im Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz (EALG). Weil das Verknüpfen von Entschädigung und Ausgleich für durch die Bodenreform Enteignete mit der Verwertung der ehemals volkseigenen Agrarflächen fatale Folgen hat. Es ist der juristische Winkelzug, um die Enteignungen Stück für Stück und damit die Bodenreform als Ganzes gegenstandslos zu machen.

In dieses Konzept paßt der Gedächtnisverlust Gorbatschows, der über diese Frage „auf seiner Ebene“ nie etwas gehört haben will. Also wäre das Bundesverfassungsgericht bei seinem Urteil vom 23. April 1991 von falschen Voraussetzungen ausgegangen.

Diese Äußerung des Ex-Staatsmannes hatte dann auch den gewünschten Effekt: die Kritiker des Gesetzes im Vermittlungsausschuß von Bundesrat und Bundestag am 31. August 1994 kompromißfähig zu stimmen. Im Ergebnis dessen haben die Großgrundbesitzer und deren Nachkommen

nun doch den Rechtsanspurch auf den Erwerb von Bodenreformland erlangt. Das Landerwerbsprogramm ist auf diese Personengruppe zugeschnitten. Pro Hektar durchschnittlicher Bodengüte brauchen sie lediglich 3 000 DM zu zahlen. Der Verkehrswert ist bedeutend höher.

Doch nur wenige Begünstigte werden das Land selbst bewirtschaften. Die meisten werden Jahr für Jahr lediglich die Bodenrente in Form der Pacht abschöpfen. Obwohl Bund, Länder und Kommunen hoch verschuldet sind, verzichten die Regierenden und die SPD gegen die Interessen der Allgemeinheit auf dauerhafte Einnahmen zugunsten der Bodenreformenteigneten.

Das Siedlungskaufpro-

gramm, der eigentliche Kompromiß, regelt die Verwertung des ehemals volkseigenen Grund und Bodens. Nun sind auch juristische Personen und ihre Gesellschafter in diese Erwerbsmöglichkeit einbezogen. Diese Gleichbehandlung aller Betriebsformen entpuppt sich beim näheren Hinsehen jedoch als erneute Ungerechtigkeit. Wenn in einer eingetragenen Genossenschaft 30 Landwirte zusammenarbeiten, so dürfen sie zusammen nicht mehr Boden als ein einziger Einzelbauer begünstigt kaufen.

Nach dieser Regelung können die 704 LPG-Nachfolgeunternehmen in Mecklenburg-Vorpommern, die im Durchschnitt 1 130 Hektar bewirt-

schaften, nur etwa ein Achtel der Wirtschaftsfläche über das Siedlungskaufprogramm erwerben. Von regierungsoffizieller Seite wird erklärt, daß sich die Unternehmen ja nur zu teilen brauchten, um mehr Eigentumsland zu bekommen. Dahinter steckt die Absicht, auch über diesen Weg die Gemeinschaftsunternehmen zu zersplittern - politische Nötigung zur Betriebsauflösung.

Das Bundesverfassungsgericht hat angekündigt, sich 1995 erneut mit der Bodenreform zu befassen. Nicht über die Festlegungen des Einigungsvertrages, sondern über das EALG wird dann befunden. Der jetzige Kompromiß steht vor Gericht. Der Kampf um den ostdeutschen Grund und Boden wird weitergeführt.

Diverse „Alteigentümer“, die mit Hilfe der Verpachtungspraxis der Treuhandanstalt bereits wieder in Mecklenburg-Vorpommern seßhaft sind, werden nichts unversucht lassen, Eigentum und Macht zurückzuerhalten. Sie verbindet das Ziel, die Bodenreform für Unrecht zu erklären.

Der Widerstand gegen die Aushebelung der Bodenreform gehört in die Parlamente, aber auch weit darüber hinaus. Das Nutzungsrecht an landwirtschaftlichem Boden muß für die einheimischen Landwirtschaftsunternehmen dauerhaft gesichert werden, damit Mecklenburg-Vorpommern nicht wieder zu einem Land der Junker und Gutsbesitzer wird.

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