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Kapitulation oder Befreiung?

  • Lesedauer: 4 Min.

Am 8. Mai 1945 hat das faschistische Deutschland vor den Mächten der Antihitlerkoalition bedingungslos kapitulieren müssen. Die Niederlage war vollständig, und sie wurde im Unterschied zu 1918 konsequent exekutiert. Nicht nur die Wehrmacht wurde besiegt, sondern der kriegführende deutsche Staat. Mit der Vier- Mächte-Erklärung vom 5. Juni 1945 - „In Anbetracht der Niederlage Deutschlands und der Übernahme höchster Autorität hinsichtlich Deutschlands“ - hörte er auf zu bestehen.

Wer mußte befreit, wer mußte niedergeschlagen werden? Kapitulation und Befreiung bilden seit 50 Jahren nicht nur dje Ausgangspunkte- gegensätzlicher 1 ! 'Bewertungen' und Traditionslinien, sie' stehen auch in einem dialektischen Verhältnis zueinander und verteilen sich nicht nur auf verschiedene Parteien. Niederschlagung, Niederlage der faschistischen Eroberer bedeuteten Befreiung für die Völker der okkupierten Länder, für die Häftlinge in KZ und Gefängnissen, für überlebende Juden, für deutsche Antifaschisten und Hitlergegner.

Mittelbar war es auch Befreiung für all diejenigen, die besiegt werden mußten, eine Befreiung vom Kriege und von der faschistischen Diktatur. Ob sie sie als Befreiung begriffen oder als Katastrophe, von der sie sich künftig wiederum zu befreien hätten, das macht den entscheidenden Unterschied aus. Das Bekenntnis zur Befreiung auch des deutschen Volkes, wie vor zehn Jahren in der Rede Weizsäckers, ist respektabel, doch es ist kein Gegenbeweis gegen eine Staatspolitik, die seit Adenauer systematisch darauf zielte, sich von den durch die Niederlage

Hitlerdeutschlands auferlegten Beschränkungen zu befreien.

Ich halte nichts davon, jenen, denen der 8. Mai als Tag der Niederlage Symbol der Katastrophe ist, einreden zu wollen, sie seien befreit worden. Für die interessierten Nutznießer des Raubkrieges war es in der Tat eine Katastrophe: Die Vorherrschaftsansprüche, mit so viel Mord in Szene gesetzt, erlitten Schiffbruch, ihren Trägern wurden Fesseln angelegt, ihre Soldaten gingen in die Kriegsgefangenschaft. Und es war eine Katastrophe für das deutsche Volk, daß es in seiner Mehrheit erst besiegt werden mußte, um die Chance eigener Befreiung zu erhalten. Wer allerdings die eigene Niederlage nicht in die eigene Befreiung verwandelte, blieb und bleibt nur besiegt. Für ihn wäre „Befreiung“ nur eine Befreiung von der Niederlage, d.h. die Aufhebung ihrer Folgen.

Die Nachkriegszeit ist 1989/1990 nicht nur für die Bundesrepublik Deutschland zu Ende gegangen, für sie aber mit dem größten Erfolg: Die DDR existiert nicht mehr, die Barriere gegen Expansion und Krieg von deutschem Boden aus ist entfallen. Die vier Besatzungsmächte haben auf ihre Siegerrechte verzichtet, ihre Truppen wurden zurückgezogen. Die Bundesrepublik Deutschland ist außenpolitisch souverän. Die D-Mark hat sich vorerst als Expansions- und Herrschaftsmittel von größerer Effizenz erwiesen als die Wehrmacht.

Doch es wäre irreführend, aus der Aufhebung so gravierender Folgen schlußfolgern zu wollen, dieses bundesrepublikanische Deutschland habe den von den Nazis verlorenen imperialistischen Krieg nun nachträglich gewonnen. Die bedingungslose Kapitulation kann wie jedes historische Ereignis nicht ungeschehen gemacht werden. Die Bundesria; pübÜk hat denKalten-krieg<g#/ wonnen und mit diesem Sieg wesentliche Folgen des 8. Mai 1945 aufgehoben. Die vier wichtigsten Siegermächte des zweiten Weltkrieges haben mit dem 2+4-Vertrag von ihren Kriegs- und Nachkriegszielen Abschied genommen.

Dieser Vertrag vom September 1990 ist keine friedensvertragliche Regelung. Die Bundesregierung wollte jeden Anschein vermeiden, den Vertrag mit den Siegern des zweiten Weltkrieges aus der Position des Besiegten abzuschließen. Es gibt keinen Hinweis auf den zweiten Weltkrieg und die deutsche Verantwortung. So entwertet dieser Vertrag die Friedensverträge der Alliierten mit Italien, Bulgarien, Finnland, Rumänien und Ungarn, indem zahlreiche ihrer Bestimmungen hinfällig werden oder zur Disposition stehen. Mit dem Ausschluß der anderen Staaten der Antihitlerkoalition aus Verhandlungen und Vertrag wurde Ländern ein Mitspracherecht ver-

weigert, die unter der deutschen Okkupation schwer zu leiden hatten, z.B. Jugoslawien, Griechenland, Norwegen, die Tschechoslowakei.

Die rechtliche Form des Verzichtes Deutschlands auf Gebietsansprüche ist ambivalent. Nach dem Rechtsverständnis der BRD ist sie mit dem Deutschen Reich in den Grenzen von 1937 identisch, d.h. einschließlich der ehemals deutschen Gebiete Polens und Rußlands. Der Grundgesetzartikel 116 wurde nicht geändert. Damit enthält das Grundgesetz nach wie vor Artikel, die dem 2+4-Abkommen widersprechen.

Die Erlangung der Souveränität war an zwei Bedingungen geknüpft: Die Bestätigung der gegenwärtigen Grenzen und den Verzicht auf Atomwaffen. Sie war verbunden mit dem Fortbestand der deutschen-NATO-Verpflichtungen und der militärischen Präsenz der USA in Deutschland. Während die USA diese beiden Punkte durchsetzen konnten, bedeutete die Verschiebung aller politischen Kräfteverhältnisse in Europa für England und

deutschen Interessen klar benennen und nicht nur in europäische einbetten. Der durch die Niederlage 1945 „traumatisierte Riese“ habe sich vom Grundgesetz irritieren lassen, das „Teilnahme an Friedenssicherung“ doch gar nicht verbiete. Die militärische Abwesenheit im Golfkrieg und in Jugoslawien seien sträfliche Fehler. Ein Blick auf die tatsächliche Politik, und nicht nur auf die in den Medien dargestellte, läßt erkennen: Die politischen Konzepte sind zwar vorsichtiger und mehrgleisiger, aber hinsichtlich der Zielstellung kein bißchen bescheidener.

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