Vor zwanzig Jahren kam Klaus Jürgen Rattay während eines Polizeieinsatzes ums Leben. Die für seinen Tod Verantwortlichen standen nie vor Gericht
Regina Seifert
Lesedauer: 7 Min.
Potsdamer Straße/Ecke Bülowstraße im Berliner Stadtbezirk Schöneberg im September 2001: Es ist einer dieser diesigen, nasskalten Tage, die den Sommer so abrupt enden ließen. Der Lärm des Straßenverkehrs und die U-Bahn, die hier oberirdisch über die Menschen hinweg donnert, dröhnen in den Ohren. Die Passanten haben es eilig. Kaum jemand beachtet das Kreuz, das in Höhe des Eingangs der Commerzbank, einen knappen Meter von der Bordsteinkante zur Potsdamer Straße, in das Straßenpflaster eingelassen ist: »Klaus Jürgen Rattay - 22. September 1981«. Die Jahre haben es abgewetzt, der Zement ist brüchig geworden.
Nachdenklich schaut der Verkehrsexperte von Bündnis 90/Grüne im Abgeordnetenhaus Michael Cramer auf das Kreuz. Vor zwanzig Jahren hatte er auch an dieser Stelle gestanden. Er erinnert sich: »Hausbesetzungen waren an der Tagesordnung. Zehntausend Wohnungen standen leer.« Viele Eigentümer betrachteten sie als Spekulationsobjekte. Mit Leerstand und Verfall ließ sich mehr Geld verdienen als mit Instandsetzung. »Dem kam auch die Wohnungsbaupolitik des Senats entgegen, die über Jahrzehnte statt der Sanierung der Altbausubstanz den Abriss und Neubau als billigere Variante propagiert hatte. Vor allem dagegen richteten sich die Aktionen der Besetzer. Darum genossen sie bei vielen Berlinern große Sympathie.«
Wenige Minuten Fußweg die Potsdamer Straße hinauf hat die Redaktion des »Tagesspiegel« ihren Sitz. Im Abstand von zwanzig Jahren will ich im Archiv die Zeit noch einmal Revue passieren lassen. Ein freundlicher Mitarbeiter mittleren Alters hat den Zeitungsband September 1981 aus dem Keller geholt. Er fragt interessiert, wonach ich suche. Offensichtlich hat nach diesem Band schon lange niemand mehr verlangt. Ich erzähle ihm von dem Kreuz auf dem Bürgersteig. »Da war ich auch dabei«, sagt er zu meiner Überraschung.
Es war ein lauer Spätsommerabend. In der Stadt herrschte eine gespannte Stimmung. CDU-Innensenator Heinrich Lummer hatte für den folgenden Tag, den 22. September 1981, die Räumung von acht besetzten Häusern angekündigt. Zwei davon in diesem Kiez. Während bereits ein massives Polizeiaufgebot damit begann, die Straßen abzuriegeln, war Stefan Aust, heute »Spiegel«-Chef, mit einem Kamerateam des Politmagazins »Panorama« unterwegs, machte wie auch die Tage davor Interviews mit den Hausbesetzern, in der Winterfeldtstraße 20 auch mit Klaus Jürgen Rattay, einem 18-jährigen jungen Mann aus dem niederrheinischen Kleve. Vor anderthalb Monaten war er nach Berlin gekommen, um an den Hausbesetzungen teilzunehmen. Rattay arbeitete nicht. Einen Job in einer Firma empfand er als Unterdrückung. In der Gemeinschaft der Besetzer aber fühlte er sich wohl. Dort wollte er »mitarbeiten« und »mithelfen«, weil das kein Zwang sei, meinte er. Mitarbeiten und mithelfen, das hieß damals ebenfalls, die Gebäude vor dem weiteren Verfall zu bewahren, sie winterfest zu machen.
Am nächsten Morgen ließ der Innensenator die Häuser räumen. Aufforderungen, auf die Aktion zu verzichten, verhallten bei ihm ungehört. »Für den Räumungstermin dieser acht Häuser gibt es zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt keine sachliche Rechtfertigung«, hatte einige Tage zuvor selbst der Berliner FDP-Chef Kunze gemeint. Das Festhalten aus »Prestigegründen« sei nur geeignet, »eine gefährliche Situation für die Bewohner der gesamten Stadt zu schaffen«, warnte er wie Politiker der Alternativen Liste und der SPD und plädierte für eine politische Lösung.
Die Räumung verlief friedlich. Die Besatzer ließen sich widerstandslos aus den Häusern tragen. Am Nachmittag inspizierte Lummer das Haus in der Bülowstraße 89, wo bereits vom Eigentümer beauftragte Arbeiter mit der Zerstörung der Fenster begannen, die sie mit Hämmern zertrümmerten und deren Rahmen sie auf den Hof warfen. Als sich der Innensenator auf dem Balkon im zweiten Stock des Hauses mit Medienvertretern zeigte, empfingen ihn Demonstranten auf der Straße mit Buhrufen und Pfiffen. »Wie ein siegreicher Feldherr betritt Lummer den Balkon des besetzten Hauses«, wird der »Stern« wenig später schreiben. Der Senator, über das Pfeifkonzert sichtbar verärgert, signalisierte mit einer Handbewegung dem Einsatzleiter der Polizei, die Straße zu räumen. Schlagstock schwingend trieben die Beamten die Demonstranten über die ganze Breite der Bülowstraße auf die Kreuzung Potsdamer Straße in den fließenden Verkehr. Klaus Jürgen Rattay wurde dabei vom Vorderrad eines heranfahrenden Linienbusses erfasst. Nach 80 Metern gelang es Passanten, den Bus zu stoppen. Der junge Mann war tot.
Heinrich Lummer wies alle Schuld weit von sich: »Die Frage der Schuld liegt eindeutig bei denen, die mit der Gewalt begonnen und sie in der letzten Zeit praktiziert hätten.« Sollte sich etwas anderes herausstellen, verkündete er am gleichen Abend, würde er sofort sein Amt zur Verfügung stellen. Im Bericht der Polizei hieß es: Rattay wollte mit einem Stein die Frontscheibe des Busses zertrümmern und sei dabei von der Stoßstange abgerutscht und unter den Bus geraten.
Genau eine Woche später, am 29. September, zeigte die »Tagesschau« einen dreiminütigen Film, der den Innensenator Lügen strafte. Ein Passant hatte zufällig den Polizeieinsatz zur Räumung der Bülowstraße mit der Videokamera festgehalten. Die Bilder zeigten die Wahrheit: Die Demonstranten wurden in den fließenden Verkehr getrieben, unter ihnen befand sich auf der Kreuzung Klaus Jürgen Rattay. Anschließend berichtete Stefan Aust in »Panorama« über weitere Hintergründe.
Der CDU-Innensenator blieb jedoch im Amt. Er ging auch nicht, als Monate später das Berliner Verwaltungsgericht diesen Einsatz für rechtswidrig erklärte. Die genauen Umstände, die zum Tod des jungen Hausbesetzers führten, wurden nie gerichtlich untersucht. Ein Klageerzwingungsverfahren, das die Eltern von Klaus Jürgen Rattay einreichten, wurde abgewiesen, die Schuldigen wurden nie zur Verantwortung gezogen. Heinrich Lummer blieb bis zu seinem Wechsel in den Bundestag im Amt. Er galt als Hardliner und Rechtsaußen der CDU, der Beschlüsse rücksichtslos durchsetzte. Der sich nicht scheute, Ende der 80er Jahre nach einem Treffen mit dem Chef der Republikaner Schönhuber während des Berliner Wahlkampfes festzustellen, dass beide in vielen Punkten einer Meinung seien. Auch diesen Skandal überlebte er unbeschadet.
Michael Cramer, damals Lehrer und aktiver Gewerkschafter, gehörte zu dem breiten Kreis von Unterstützern der Hausbesetzer. Er hatte an jenem Morgen die Schule geschwänzt, um während der Räumung bei den Besetzern in der Winterfeldtstraße 20 zu sein. Er erinnert sich an den Schweigemarsch, zu dem seine Gewerkschaft, die GEW, nach dem Bekanntwerden des Todes von Klaus Jürgen Rattay am gleichen Abend aufrief. Weit über 10000 Berliner nahmen daran teil. An der Unglücksstelle legten sie Blumen und Kränze nieder. Und dann geschah etwas Unglaubliches: Polizisten zertrampelten mit ihren Stiefeln die Blumen. »Es war schwer, in diesem Moment ruhig zu bleiben. Vor allem, als wir mitkriegten, dass von der Polizei die Nachricht verbreitet wurde, ein Polizist sei von Demonstranten erstochen worden.« Mit dieser gezielt verbreiteten Falschmeldung versuchte die Polizei offenbar, die Situation umzukippen. »Der Schweigemarsch verlief bis dahin absolut friedlich.« Nur so könne man, sagt Cramer, die danach folgenden Krawalle verstehen, die über Tage hinweg anhielten.
»Die Hausbesetzerbewegung war eine Wohltat für Berlin«, sagt Michael Cramer heute noch. »Sie hat ganz eindeutig zu einer Wende in der Wohnungsbaupolitik beigetragen: Weg vom Kahlschlag, hin zur sanften Sanierung des Altbaubestandes«, die nach 1989 auch im Ostteil Berlins fortgeführt wurde.
Vor zehn Jahren erinnerte eine Gedenkveranstaltung an die Ereignisse des 22. September 1981, zu der Cramers Partei mit aufgerufen hatte. Und heute? »Wir haben Wahlkampf«, meint der Politiker fast entschuldigend.
Potsdamer Straße/Ecke Bülowstraße im September 2001. Der Regen hat eine Pause gemacht. Jemand hat eine Rose auf das Kreuz gelegt, das betroffene Berliner wenige Tage nach dem 22. September 1981 aus Zement gegossen haben. Einer schrieb mit seinem Finger Namen und Datum in die noch nicht trockene Masse. Es ist kein offizielles Denkmal. Dennoch hat es die Jahrzehnte und sämtliche Bauarbeiten überstanden. Zum Glück.
Ein junger Mann bleibt neugierig stehen. Felix Kieselbach geht hier oft vorbei. »22. September 1981 - zwei Tage später bin ich geboren worden«, erzählt er. Er hat von dem jungen Mann, dessen Name auf dem Kreuz steht, gehört. Da war er zehn und in der vierten Klasse. Felix kramt in seinem Gedächtnis: »Das war im Sozialkundeunterricht. Wir haben über Willkür und Gewalt gesprochen im Zusammenhang mit den Demonstrationen am 1. Mai. Auch über Polizeiwillkür. Klaus Jürgen Rattay war ein Beispiel dafür, dass Willkür und Gewalt den Tod eines Menschen zur Folge haben können.«
Inzwischen sind ein paar Sonnenstrahlen hervorgekommen. Der Hof des Hauses Bülowstraße 89 wirkt wie eine grüne Oase. Ein paar Bewohner sind ins Gespräch vertieft. Ein Gemisch aus Deutsch, Türkisch und Serbokroatisch dringt ans Ohr. Weiter, in Richtung Winterfeldtstraße, werden die Häuser durch kleine Grünflächen unterbrochen. Das ist die Gegend, die vielen Fernsehzuschauern aus der ARD-Vorabendserie »Praxis Bülowbogen« bekannt ist. Hier werden die Außenaufnahmen gedreht. In der Winterfeldtstraße 20 befindet sich im Erdgeschoss ein Jugendzentrum. »Frühstück für Arbeitslose«, steht auf einem Zettel. Wenige Meter weiter öffnet sich die Straße zu einem großen Platz. In den freundlich hellen Altbauten, auf deren Dächer sogar Bäume wachsen, wohnen heute u. a. Anwälte, Ärzte, Lehrer. Einige waren schon vor zwanzig Jahren hier, als Hausbesetzer...
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