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»Sanacja« wieder Staatsdoktrin?

Das Demokratieverständnis der neuen Regierung Von Julian Bartosz, Wroclaw

  • Lesedauer: 4 Min.

Das Land zwischen Oder und Bug liegt zur Zeit im tiefen Nebel - und das im doppelten Sinne des Wortes. Auch wenn sich das atmosphärische Dickicht mit den ersten Winterstürmen verziehen wird, die politischen Schwaden werden sich so leicht nicht wegblasen lassen.

Die »Entsorgung« der früheren Mitte-Links-Regierung Polens hier gefordert von jungen

Rechtsradikalen in Warschau-wird von den neuen

Machthabern in Form einer »Säuberung« auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens fortgesetzt.

Foto: Reuters/Kopczynski,

Da hatte der neue Sejm-Marschall Maciej Plazynski dreist behauptet, die Wahlaktion Solidarnosc (AWS) als Träger der neuen polnischen Regierung habe es nicht nötig, sich als demokratischer Faktor auszuweisen, denn »Solidarnosc« als erfolgreichste antikommunistische Kraft stehe in der freien Welt in hohem Ansehen. Der Parlamentschef scheint damit die künftige Staatsdoktrin verkündet zu haben, denn auf allen Ebenen des öffentlichen Lebens findet derzeit ein »Reinigungsprozeß« statt. In dieser Beziehung hält die AWS ihr Versprechen: Vor den Wahlen hatte sie angekündigt, 4000 ihrer Kader stünden bereit, den Staat zu übernehmen.

Kompetenz spielt dabei nicht die ausschlaggebende Rolle. Hauptsache, die »neuen Leute« sind »alte bewährte Kampfgenossen« - wie etwa Innenminister Janusz Tomaszewski, der nur eine Berufsschule absolviert hat, oder eine ehemalige Gerichtsprotokollantin, die im Schnellverfahren ein Rechtsstudium absolvierte, seit zwei Jahren auf unterer Ebene als Richterin fungierte und jetzt zum Mitglied des Verfassungstribunals gewählt wurde. Die skandalöse Besetzung der Kulturausschüsse in Sejm und Senat mit Favoriten des ultraklerikalen »Radio Maryja« ließ zwar die ganze polnische Intelligenz staunen, Proteste von Intellektuellen - wie sie in der Volksrepublik Polen an der Tagesordnung waren - wurden jedoch nicht laut. Angst?

Czeslaw Bielecki, Architekt und »verdienter Oppositioneller«, neuerdings Vorsitzender des außenpolitischen Sejm-Ausschusses, sagte in einem Fernsehgespräch, alles sei in bester Ordnung. Koalition und Regierung seien schließlich unter der Losung »naprawa Rzeczpospolitej« (Erneuerung der Republik) angetreten. Dazu brauche man keine »Parlamentokratie«, sondern eine straffe Führung (unter einem Duce wie AWS-, Solidarnosc- und Fraktionschef Marian Krzaklewski?), ein absolut zuverlässiges Koordinierungssystem zwischen Regierung

und Parlament. Man könne doch der Opposition in Gestalt des Bündnisses der Demokratischen Linken (SLD) keine wichtigen Kontrollbefugnisse in den Parlamentsausschüssen einräumen! Dann würde ja die »naprawa« sabotiert.

Dieses Wort läßt sich auch als »Sanierung« übersetzen. In Polen gab es schon einmal ein »Sanierungssystem«, genannt »sanacja«. Das kam im Mai 1926 nach dem Pilsudski-Staatsstreich (Hunderte von Toten) an die Macht, sein Programm hieß »moralische Erneuerung« und »Nieder mit der Parlamentokratie!« - polnisch »sejmowladztwo«. Die Parteien wurden binnen kürzester Zeit gleichgeschaltet.

Ein Parteiloser Block der Zusammenarbeit mit der Regierung (BBWR) versuchte, die Politik zu monopolisieren. Oppositionelle Abgeordnete wurden in die Festung Brzesc (Brest) gezerrt, mißhandelt, und dann gab es eine Gerichtsfarce. Ruhe kehrte ein in Polen, Protestdemonstrationen wurden niedergeschossen, die Anführer zu Straflagerhaft in Bereza Kartuzka verurteilt.

Selbstverständlich darf man die heutige Situation keinesfalls mit der damaligen Lage vergleichen. Eine polnische Version des deutschen Spruchs »Bonn ist nicht Weimar« wäre ein Sakrileg. Die »S« ist legal an die Macht gekommen, für die

Moral bürgt die katholische Kirche, und außerdem gibt es noch die »Anstandsdame« - die liberale Freiheitsunion (UW) als Juniorpartner der AWS! Die Opposition darf beliebig maulen. Schließlich will Polen in die NATO und die EU, also müssen demokratische Standards be- und geachtet werden.

Doch der Ruf nach Prozessen wird lauter. Neben den »Verbrechern aus der Zeit des Totalitarismus« will man den ehemaligen Justizminister Leszek Kubicki und den Koordinator der Sonderdienste Zbigniew Siemiatkowski vors Verfassungsgericht stellen, weil sie im »Weißbuch« zum Fall des früheren Ministerpräsidenten Jozef Oleksy Verschlußsachen der polnischen Abwehr preisgegeben haben sollen. General Bogdan Libera dagegen, der 1995 die Olesky-Affäre eingefädelt hatte (dem SLD-Premier waren Kontakte zum russischen Geheimdienst nachgesagt worden) und daraufhin gefeuert wurde, ist wieder zum Chef der Spionageabteilung des Amtes für Staatsschutz (UOP) ernannt worden.

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