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Studentenproteste in Serbien: Ein neues 1968?
In Serbien findet ausgehend von Studierendenprotesten eine Massenbewegung statt, die das autokratische Regime ins Wanken bringt
Die blutige Hand ist überall: auf Plakaten, Aktenordern, Stickern, mit Lippenstift auf Gesichter geschminkt oder als tatsächlich rot gefärbte Hände von Demonstrierenden. Relativ unbeachtet von den deutschen Medien finden in Serbien zurzeit die größten Proteste seit dem Sturz des Milošević-Regimes statt. Unter dem Slogan »Krvave su vam ruke!« (Eure Hände sind blutverschmiert) ist die rote Hand zum Symbol dieser Protestbewegung geworden.
Gemeint ist das Blut jener 15 Menschen, die am 1. November 2024 starben, als das Vordach des Bahnhofs in der serbischen Großstadt Novi Sad einstürzte. Der Bahnhof war gerade erst renoviert worden – finanziert durch ein Abkommen mit China, das strenger Geheimhaltung unterliegt. Für die Protestierenden zeigt der Vorfall, dass die Korruption in Serbien mittlerweile lebensgefährlich ist. Der Verdacht liegt nahe, dass Geld veruntreut wurde, das eigentlich in die Sicherheit des Gebäudes investiert werden sollte. Kurz nach dem Vorfall begannen die ersten Proteste mit 15 Schweigeminuten – eine für jedes der Opfer. Die Forderungen: Die Schuldigen für das Unglück sollten zur Verantwortung gezogen werden und die Staatsanwaltschaft sollte zur Korruption ermitteln. Das autokratische Regime unter Präsident Alexander Vučić reagierte mit Drohungen und Gewalt. Hooligans attackierten Proteste, immer wieder fuhren Autos in Demonstrationen – angeheizt von Vučić, der die Demonstrierenden als ausländische, unter anderem kroatische »Agenten« verunglimpfte.
Als am 22. November Studierende der Darstellenden Kunst in Belgrad von Anhängern der Regierungspartei Serbische Fortschrittspartei (SNS) attackiert wurden, besetzen erstere kurzerhand ihre Fakultät. Die Besetzungen breiteten sich rasend schnell in ganz Serbien aus. Seither liegt der Lehrbetrieb brach. Die Besetzer*innen sind dabei zwar vernetzt, aber jede Besetzung trifft autonom Entscheidungen. Die selbstorganisierten Plena, basisdemokratische Entscheidungsfindung, Dezentralität und die Abwesenheit einer Führungsfigur sind ein Gegenentwurf zum autoritären Klientelstaat, der mittlerweile den Alltag in Serbien bestimmt und das politische Leben lähmt.
Von der Uni zur Massenbewegung
Was mit einem Studierendenprotest und der simplen Forderung nach Aufklärung und Rechtsstaatlichkeit begann, ist nach drei Monaten zu einer milieu-übergreifenden Massenbewegung geworden. Mittlerweile haben sich weite Teile der serbischen Gesellschaft mit den Besetzer*innen solidarisiert – auch aufgrund der Gewalt, die diese erfahren haben. Biker beschützen die Proteste, Landwirte fahren mit ihren Traktoren den Demonstrationen voraus. Selbst der sonst sehr regimefreundliche und nationalistische Tennisstar Novak Đoković unterstützt die Studierenden.
Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts CRTA befürworten 61 Prozent der Serb*innen die Proteste. Am 24. Januar folgten viele von ihnen dem Aufruf der Studierenden zum Generalstreik. Am 27. Januar besetzen dann Zehntausende die Autokomanda, eines der verkehrsreichsten Autobahnkreuze in der Hauptstadt Belgrad. Am nächsten Tag trat Premierminister Miloš Vučević zurück. Dieser war bis 2022 Bürgermeister von Novi Sad, in seine Amtszeit fielen auch die verpfuschten Bauarbeiten am Bahnhof. Als Grund für seinen Rücktritt gab Vučević jedoch einen weiteren Angriff auf Studierende an, dieses Mal in Novi Sad: In der vorangegangenen Nacht hatten zwei Männer Studierende mit Baseballschlägern angegriffen – aus dem örtlichen Parteibüro der SNS heraus. Eine Medizinstudentin musste mit gebrochen Kiefer ins Krankenhaus gebracht werden. Auch Milan Đurić, Vučevićs Nachfolger im Amt des Bürgermeisters von Novi Sad, trat zurück.
Der Präsident und sein Racket
Beide Personalien können, wie auch bereits zuvor zurückgetretene Minister der SNS-Regierung, getrost als Bauernopfer verstanden werden. Die eigentliche Macht in Serbien liegt in den Händen von Präsident Alexander Vučić. Laut Verfassung hat dieser eigentlich nur repräsentative Aufgaben, doch solche Formalitäten sind nach knapp 13 Jahren SNS-Herrschaft unbedeutend. Vučić führt ein Racket an, unter dessen Herrschaft die Medien größtenteils gleichgeschaltet wurden, Korruption an der Tagesordnung ist und man ohne Parteimitgliedschaft kaum Aussicht auf einen lukrativen Job hat.
Gegen all das richten sich die Proteste – und sie kommen nicht aus dem Nichts. Im Gegenteil, Serbien war in den letzten Jahren nicht gerade arm an Protestbewegungen. Seit 2016 gab es immer wieder Massendemonstrationen, die eindrücklichsten 2021 gegen Lithium-Abbau im Jadartal und 2023 gegen die endemische Gewalt im Land. Dabei ging es immer auch um Rechtsstaatlichkeit und ein Ende der grassierenden Korruption. Alle diese Proteste brachten Hoffnung, verpufften aber irgendwann.
Was ist dieses Mal anders? Die aktuellen Proteste erreichen eine Breite, die vorangegangenen Bewegungen gefehlt hat. Vučić konnte frühere Proteste als angeblich liberale Minderheitenmeinung diffamieren und aussitzen. Diese Strategie geht nun nicht mehr auf und der Präsident will deshalb einlenken. Parallel zu den Rücktritten versucht er, die Studierenden mit niedrigen Studiengebühren zu ködern. Auch soll nun tatsächlich wegen Korruption bei der Renovierung des Bahnhofs von Novi Sad ermittelt werden. Nach dem Rücktritt von Premier Vučević hat Vučić zudem angekündigt, binnen zehn Tagen über Neuwahlen zu entscheiden. Das ist jedoch kein Zugeständnis, und das wissen die Studierenden genau. Bereits im Kontext der Proteste 2023 hatte Vučić vorgezogene Neuwahlen angesetzt – welche die SNS gewann. Bei der Wahl kam es zu Unregelmäßigkeiten, faire Abstimmungen sind in Serbien nicht garantiert. Oppositionsparteien können nicht frei arbeiten, sie sind schwach und zudem zerstritten.
Systemfrage ohne Antwort
Anstatt auf Vučićs Offerten einzugehen, lassen die Studierenden sie einfach links liegen. Das ist wohl das Schlimmste, was einem Autokraten passieren kann. In dieser bewussten Ignoranz liegt eine weitere große Stärke der Proteste: Sie liefern sich keinen medialen Schlagabtausch mit dem Regime, folgen keiner Aufmerksamkeitsökonomie, sondern setzen ihre Themen über ihre Kanäle selbst. Hinzu kommt, dass es in der Bewegung weder zentrale Führungsfiguren noch einen klaren Bezug zu Oppositionsparteien gibt. Dies vergrößerte einerseits die Anschlussfähigkeit der Proteste und erschwert es dem Regime anderseits, die Bewegung zu diffamieren.
Die Wucht der Proteste ist beeindruckend und es scheint, dass die Macht von Vučić und der Status Quo in Serbien erstmals ernsthaft infrage gestellt wird. Gleichzeitig ist es schwierig, eine Perspektive zu sehen, auf die die Proteste zusteuern können – das ist die Kehrseite ihrer Offenheit. Die Studierenden fordern bewusst nicht den Rücktritt Vučićs, der allzu leicht durch einen Strohmann ersetzt werden könnte. Sie wollen grundlegenden Veränderungen. Und obwohl die Forderungen nach Rechtsstaatlichkeit und Einhaltung von Gesetzen nicht sonderlich radikal klingen mögen, bedeuten sie doch einen Bruch mit dem jetzigen politischen System.
Ohne eine klare Alternative laufen die Proteste Gefahr, das gleiche Schicksal zu erleiden wie die Studierendenproteste von 1968, mit denen sie teilweise verglichen werden. Damals wie heute gelang es, die Systemfrage zu stellen – nur eine Antwort fehlte der Bewegung. Noch vor einigen Jahren wäre die EU der naheliegende Bezugspunkt gewesen. Diese ist jedoch an Serbien vor allem als Lieferant für Lithium und als angeblicher Stabilitätsfaktor in der Region interessiert. Dass letzteres wahrscheinlich noch nie der Realität entsprochen hat, interessiert weder die EU noch Deutschland, das vor kurzem ein Lithiumabkommen mit Serbien geschlossen hat. Anders als vorangegangene Proteste appellieren die Studierenden daher auch nicht an »den Westen«. Sie wissen, dass sie auf sich gestellt sind.
Die Angst ist weg
Derweil gehen die Proteste weiter. Am vergangenen Wochenende marschierten hunderte Studierende von der Hauptstadt Belgrad nach Novi Sad, um an der Großdemonstration teilzunehmen, die auf den Tag genau drei Monate nach dem Bahnhofsunglück stattfand. Unterwegs wurden sie in zahlreichen Dörfern mit dem Ruf »Deco, vi ste naša nada!« (Kinder, ihr seid unsere Hoffnung!) begrüßt. Anschließend besetzten Zehntausende die Donaubrücken in Novi Sad. Nach dem Protestwochenende verkündete die serbische Anwaltskammer einen 30-tägigen Streik, der bis zum 4. März dauern soll – mit der klaren Ansage, Druck auf den Staat ausüben zu wollen.
Die rote Hand wird sicher nicht so einfach von den Straßen Serbiens verschwinden. Denn es gibt noch einen gewichtigen Unterschied zu vorangegangen Protesten: Die Angst ist weg. Wie sämtliche regimekritische Bewegung in Serbien haben auch die Studierenden enorme Repression erlebt – und trotzdem weitergemacht. Sie haben sich nicht einschüchtern lassen.
Ungeachtet der Frage, wohin die Proteste führen, zeigen sie bereits jetzt etwas enorm Wichtiges: Die Menschen haben sich nicht vom autoritären Regime einschüchtern lassen. Denn während in den USA, Deutschland und anderswo die Autoritären gerade in den Startlöchern stehen, konnte das Regime um Vučić seine Macht bereits über Jahre festigen. Die Proteste der roten Hand zeigen, dass Aufbegehren dennoch möglich ist – und dass das Regime sich davor fürchtet. Das kann in Zeiten grassierenden Hoffnungslosigkeit gar nicht überbewertet werden.
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