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  • Politik
  • Zum Tode des Regisseurs Stanley Kubrick

Visionär und Perfektionist

  • Horst Knietzsch
  • Lesedauer: 4 Min.

Für den 16. Juli 1999 war die Premiere seines neuen Films festgesetzt. Tom Cruise und seine Frau Nicole Kidman, so war durchgesickert, spielen in »Eyes Wide Shut« (Augen, weit geschlossen), der filmischen Adaption von Arthur Schnitzlers »Traumnovelle«, ein Psychologenehepaar, das sich in Gewalt und sexuelle Phantasien verstrickt. Der Film sollte wohl wieder eine jener die Welt erregenden Zukunftsvisionen des amerikanischen Regisseurs sein, diesmal mit Blick auf Drogen und Sex als Obsessionen unseres Jahrhunderts. Noch ist nicht bekannt, ob Stanley Kubrick am Schneidetisch sein Werk vollendet hat. Am Sonntag ist er im Alter von 70 Jahren auf dem Landsitz der Familie in Harpende, britische Grafschaft Hertfordshire, gestorben. Stanley Kubrick wird in die Filmgeschichte als einer der großen Individualisten der Kinematographie eingehen. Er gehörte zum Kreis jener Regisseure (Delbert Mann, Nicholas Ray, Richard Brooks, Martin Ritt, Robert Aldrich, Sidney Lumet, Stanley Kramer) die nach dem Abklingen der antikommunistischen Hexenjagd in den LJSA, die nicht wenige Filmkünstler über viele Jahre gelähmt hatte, ihr Land wieder aus einem realistischen, kritischen Gesichtswinkel betrachteten. Dennoch verließ Kubrick 1960 Amerika, weil er dort seine filmischen Visionen nicht mehr frei und unabhängig verwirklichen konnte.

Am 26. Juli 1928, in der Bronx von New York als Sohn einer jüdischen Familie polnisch-rumänischer Herkunft geboren, war er Fotojournalist, kam als Au-

todidakt zur Filmproduktion. Seinen ersten Film (»Fear und Desire«, 1953) zog er wieder zurück, die Parabel über Sex und Gewalt schien ihm nicht gelungen. Nach unbedeutenden Gangsterfilmen holte ihn Kirk Douglas nach Hollywood, und ihr Antikriegsfilm »Wege zum Ruhm« (1957) über den Sadismus und die Arroganz hoher Militärs, der Blick in die Abgründe menschlichen Bewußtseins, wurde ein weltweiter Erfolg. Noch einmal mit Douglas in der Hauptrolle entstand nach dem Roman von Howard Fast der Monumentalfilm »Spartacus« (1960) über den Aufstand römischer Sklaven gegen ihre Peiniger Mit der Verfilmung von Vladimir Nabokows Roman »Lolita« (1962) über die Jeidenschaftüche.Beziehung eines,alternden Mannes zu einer Minderjährigen schockierte Kubrick das prüde offizielle Amerika. Die amerikanische Weltmachtpolitik, das Spiel mit dem Atom auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs, attackierte er in der ätzenden politischen Satire »Dr Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben« (1964).

»2001 - Odyssee im Weltraum« (1968), der 1969 auch auf dem Filmfestival in Moskau zu sehen war, bedeutete einen Meilenstein und einen Wendepunkt in der Produktion utopischer Filme. Wie Kubrick die Unendlichkeit, die Größe des Kosmos ins Bild setzte, wie er auf dem Flug zum Jupiter das Elektronenhirn des Raumschiffs revoltieren läßt und den Kampf vernunftbegabter Menschen gegen den Computer HAL ästhetisch aufbereitet, wie er den Flug durch psychedelische Räume führt und dazu Musik von Ligeti, Johann Strauß und Richard Strauss einsetzt, dagegen sind nicht wenige utopische Weltraumfilme unserer Tage armseliger Kintopp.

Gnadenlose Kritik übte der Visionär Kubrick in »Clockwork Orange« (1971) an den Deformationen in den Beziehungen der Menschen auf der Erde. Wegen der Darstellung von sexuellem Sadismus, filmischer Gewalt und Perversion vor dem Hintergrund zunehmender Jugendkriminalität und seiner nicht weniger scharfen Polemik gegen Methoden, rebellische

Menschen über eine grausame Gehirnwäsche ruhigzustellen, ist dieser Film sicher eines seiner umstrittensten Werke. Ein ästhetisch völlig anderer Kubrick offenbart sich über den Film »Barry Lyndon« (1975). Hier wird ein Zeitalter britischer Geschichte besichtigt, tritt aus berauschend schönen Bildern die moralische Verkommenheit des britischen Adels in den Vordergrund. Wie sehr der nach England emigrierte Mann aus der Bronx von New York den US-amerikanischen Militarismus gehaßt hat, belegt »Füll Metal Jacket« (1987). Es gibt kaum einen anderen Kinofilm, der so gnadenlos demonstriert, wie junge Rekruten zu

Kampfmaschinen erzogen werden. Für Kubrick war Vietnam eine Orgie des Hasses und der Gewalt.

Zwölf Jahre hat Kubrick geschwiegen. Er lebte in einem abgeschirmten Haus in der Nähe von London. Viele seiner Filme haben Oscars für Spezialeffekte erhalten, aber als Regisseur blieb ihm diese Anerkennungversagt. Hollywood hat auf seine Weise Krieg gegen Kubrick geführt. Er galt als exzentrisch und menschenscheu, sein Perfektionismus war der Alptraum aller Produzenten. Kubricks Sicht auf Mensch und Welt sollte uns auch weiterhin beunruhigen.

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