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- Alexander Puschkin durch neue Übersetzungen wiederentdeckt
»Weil ich die Freiheit pries in mitleidlosen Tagen«
Von Katharina Mommsen
Im 200. Geburtsjahr von Alexander Sergejewitsch Puschkin (1799-1837) besinnt man sich in allen Ländern Europas, dass mit diesem Dichter die russische Poesie die Bühne der Weltliteratur betrat. Dostojewski pries ihn als die Vollendung des slawischen Menschen und Geistes schlechthin. Gogol rühmte ihn als »Dichter schlechthin«. Fast jeder bedeutende russische Autor - von Karamsin und Shukowski bis zu Pasternak, Nabokov, Mandelstam, Achmatowa und Sinjawski hat sich mit Bewunderung und Liebe über Puschkin geäußert. Diese außergewöhnliche Hochachtung wird in Russland von allen Bevölkerungsschichten geteilt. Der Dichter hat es vorausgesehen: » ... lang wird liebend mich das Volk im Herzen tragen,/ Weil ich mit meinem Lied erweckt, was lange schlief,/ Weil ich die Freiheit pries in mitleidlosen Tagen/ Und für die Schuld um Gnade rief«.
Erkannte man in Deutschland Puschkins hohen Rang in der Weltliteratur? Von Goethe stammt ein freimütiges Zeugnis seiner Bewunderung für den 50 Jahre jüngeren Russen, dem er leider nie begegnete. Im Juli 1826 sandte er ihm eine seiner Schreibfedern mit Lobversen, deren Wortwahl indirekt auf charakteristische Eigenschaften Puschkins anspielt: Kühnheit, Frohsinn im Lieben und Freiheitlichkeit im Schreiben. »Was ich mich auch sonst erkühnt/Jeder würde froh mich lieben,/ Hätt ich treu und frei geschrieben/ All das Lob, das du verdient.«
All das Lob, das er verdient, hat Puschkin in Deutschland nie erhalten. Nach der »Wende« wurden sogar Puschkin-Bibliotheken, -Plätze und -Straßen umbenannt, so als hätte der Dichter irgend etwas mit Stalins Gulag zu tun gehabt, während es doch gerade seine besten Freunde gewesen waren, die im zaristischen Gulag schmachteten. Die Unkenntnis hierzulande, das Missverhältnis zwischen Puschkins Bedeutung und dem öffentlichen Interesse an ihm ist nach wie vor bedrückend. Zumal in den alten Bundesländern, während man in der ehemaligen DDR durch den Russischunterricht an den Schulen und einige damals erschienene Übersetzungen etwas mehr von ihm weiß.
Puschkin hat jede literarische Gattung gemeistert - man denke an das Versepos »Jewgeni Onegin«, die Novelle »Pique Dame«, das Drama »Boris Godunow«, den Roman »Die Hauptmannstochter«, die Erzählungen usw. Gleichwohl ist er vor allem Lyriker. Doch gerade als solcher ist er bei uns nahezu unbekannt, da bisher nur ein kleiner Teil seiner Lyrik ins Deutsche übertragen wurde. So ist es ein Glücksfall sondergleichen, dass die wegen ihrer vollendeten Form als unübersetzbar geltenden Gedichte in Michael Engelhard auf einen Meister der Übersetzungskunst trafen, dem bereits unübertreffliche Übersetzungen Leopardis und des gesamten lyrischen Werks von Michelangelo zu verdanken sind.
Aus Liebe zu Puschkin setzte Engelhard 20 Jahre seines Lebens daran, um jeden seiner Verse mit größter Treue in Bild, Klang, Rhythmus und Reim in adäquate deutsche Verssprache umzuschmelzen. 600 dieser Gedichte wurden nun auf Deutsch und zudem noch in einer zweisprachigen Ausgabe veröffentlicht. Den Puschkinschen Originalen sind die Engelhardschen Übersetzungen gegenübergestellt. Der Leser spürt: Was Puschkin auch anfasst, er macht daraus Poesie. Seine Persönlichkeit ist überall gegenwärtig, ob die Verse nun lachen, richten, donnern, rauschen, flüstern, schweben, trompeten oder einfach nur die Dinge nennen: »Hab meinen Garten lieb, den stillen Strand, den See,/ Das Feld am Hause voller Klee/ Und auch das Tor, den Zaun, die morsch im Winde schwingen!«
Was die menschliche Seele nur bergen kann, kommt in diesen Gedichten zum Ausdruck. Sehnsucht und Erfüllung, Glück und Unglück, Gebet und Fluch, Stolz und Demut, Feierliches und Groteskes, Erhabenes und Lächerliches, Liebliches und Gewaltiges, Verzweifeltes und Heiteres, Sinnliches und Geistiges, Blasplierhisches und tief Religiöses. Besonders beglückend ist die schon von Eichendorff gerühmte »hinreißende Gewalt seines Naturgefühls«.
Vollauf bestätigt sich auch ein anderer Eindruck; den Eichendorff von Puschkin gewann: »Großartig und immer neu ist... die lebensvolle Auffassung der bedeutenden Nationalitäten.« Mit welcher Achtung und Sympathie begegnet Puschkin den
verschiedenen Völkern, selbst den Gegnern seines Vaterlandes, wie genau erfasst und gestaltet er ihr innerstes Wesen! Ein Beispiel: Als er im Jahre 1829 eine russische Armee in die Türkei begleitete, begegnet er bereits einem Islam, der sich gegen »westliche« Einflüsse zur Wehr setzt. »Dort gilt nicht, was Mohammed lehrte;/ Die Wahrheit, die der Osten ehrte,/ Wich vor des Westens falschem Sinn«. Der eingebrochenen Sittenlosigkeit, den »wü-
Märkte, Öl, Sicherheitsinteressen, wirtschaftliche Entwicklung und ähnliches sah.
Wie Puschkin hier achtungsvoll die Glaubenswelt des Islam betrachtet, so in anderen Gedichten die Lebensauffassung der Zigeuner oder die freiheitliche Mentalität der Kaukasusbewohner, wie er sie erlebt hatte. Mit gleicher Intuition versetzte er sich in alle geistigen Traditionen - von der klassischen Antike angefangen über Italien, Spanien, England, Frankreich, Deutschland, Polen und der anderen slawischen Völker. So ist Puschkin der europäische Dichter schlechthin. Die häufig beschworene Einheit der gesamteuropäischen Kultur - für ihn war sie bereits Wirklichkeit.
In Puschkins Gedichten findet man alles: vom schlichten Volkslied bis zum klassisch Griechischen, von der zartesten Liebe bis zum furchtbar strengen Richter-
zu seiner Zeit, als das orthodoxe Regime Zensur, Polizei und Gerichte zur strengen Einhaltung der vorgeschriebenen Prüderie einsetzte. Darum musste Puschkin sogar gelegentlich, um sich zu retten, seine Verfasserschaft ableugnen. Bezeichnend war es für den temperamentvollen Künstler, der schon in ganz jungen Jahren Bordelle besuchte, seine Geschlechtlichkeit ohne alle Schuldgefühle zu genießen. Seine erotischen Gedichte sind sehr verschiedenartig, doch stets geistreich, einige sehr frei und frech, die meisten amüsant und witzig, charmant und heiter, andere voll zarter, liebevoller Dankbarkeit. Er, der von Natur heterosexuell veranlagt war, ließ freizügig auch jede andere Art sexueller Orientierung gelten. Eine Haltung, die es bisher verhindert hat, dass selbst im heutigen Russland die erotischen Gedichte unverkürzt erscheinen konnten. Hier aber werden sie in unverstümmelter, unzensurierter Form wiedergegeben.
Puschkin bekannte sich zu seiner Sexualität als zu einem Teil seiner gottgewollten Existenz und verspottete die Verklemmtheit und Verlogenheit der offiziellen Moral. Die ist, gemessen am Maßstab seiner erotischen Gedichte, selbst am Ende des 20. Jahrhunderts noch immer verklemmt, wie der Monika Lewinsky-Skandal in Amerika zeigt: Der Sexualkontakt des Präsidenten führt in einem bedeutenden Lande am Ende des 20. Jahrhunderts zu einer über ein Jahr dauernden Verfassungskrise, die sämtliche Verfassungsorgane - Präsident, Repräsentantenhaus, Senat, Justiz - und darüber hinaus die Massenmedien in Mitleidenschaft zog! Wie hätte Puschkin sich darüber lustig gemacht!
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