Der »Decke Pitter« stammt aus Apolda
Glocken aus der thüringischen Kreisstadt ertönen in Köln, Philadelphia, Buenos Aires und Australien
Von Anne Friedrich
Die thüringische Kreisstadt Apolda und Köln trennen ein paar hundert Kilometer. Sie verbindet ein Klang. Der der Kölner Domglßcke. Der »Decke Pitter«, wie die Kölner den 24 Tonnen schweren Bronzekoloss liebevoll nennen, wurde am 5. Mai 1923 in der Apoldaer Glockengießerei »Gebrüder Ulrich« gegossen. Erst ein Jahr später konnte die Glocke, mit einer Höhe von 3,35 Metern und einem Durchmesser von 3,25 Metern die größte freischwingende Glocke der Welt, an den Rhein gebracht werden - die französische Besetzung des Rhein-Ruhr-Gebietes verhinderte einen zeitigeren Transport. Eine Verspätung, die die Apoldaer heute als ganz passend empfinden. Just im Weimarer Kulturstadtjahr konnte die Kreisstadt des Weimarer Landes, von der Dichter- und Denker-Nachbarstadt ob ihres Wolle- und Bier- und Rostwurst-Images immer ein wenig belächelt, ihr erstes Glockenfest feiern. Und damit an
das 75-jährige Jubiläum von Transport und Weihe der Kölner Domglocke erinnern.
Ihre Anfänge nahm die Apoldaer Glockengießertradition im Jahr 1722, als Johann Christoph Rose in der Stadt die erste Gießhütte errichtete. 1748 wurde sie von seinem Verwandten Martin Rose bis zu dessen Tod 1758 weitergeführt. 1759 erwarb der aus dem Unstrutort Laucha stammende Johann Georg Ulrich Roses Gießerei. Seit 1762 besaß die Familie Ulrich das Privileg des Glockengießens im Herzogtum Weimar. Offenbar ein Streitobjekt zwischen den drei Brüdern Johann Georg, Johann Gottfried und Johann Christian - allesamt Glockengießer - wurde es 1783 zu je einem Drittel auf sie aufgeteilt. Anfang des 19 Jahrhunderts führten die Söhne der Brüder Ulrich - bis auf die Nachkommen Johann Christians blieben alle der Familientradition treu die Apoldaer Gießerei weiter. Diese firmierte seit 1830 unter dem Namen »Gebrüder Ulrich«. Ganz so harmonisch
schien es um die Ulrich-Dynastie nicht bestellt zu sein. Immerhin kam die innerstädtische Gießerkonkurrenz aus der eigenen Familie. 1826 eröffnete Carl Friedrich Gottlieb Ulrich, ein Enkel des Firmengründers Johann Georg, eine zweite Gie-ßerei. Und die machte dem Ursprungsbetrieb das Leben wohl einigermaßen schwer. Unter dem Firmennamen »C.F. Ulrich« galt sie ab 1870 als eine der führenden Gießereien in Deutschland. Unter anderem stammt das fünfstimmige Geläute der Dresdener Kreuzkirche aus dieser Werkstatt, die seit 1876 von Franz Friedrich August Schilling, einem entfernten Verwandten der Ulrichs, geführt wurde. 1910 - da war die Glockengießerei »Gebrüder Ulrich« schon einmal in Konkurs gegangen - wurde sie in »Franz Schilling und Söhne« umbenannt. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges lieferte Schilling rund 8000 Glocken, darunter zwölf Glockenspiele; während der Kriegsjahre wurde sie geschlossen. Zwischen 1946 und 1969 stellte die Gießerei Franz Schilling 1700 Glocken her.
Mit dem Namen Schilling dürften auch die Berliner etwas anzufangen wissen. Das Glockenspiel im Berliner Französischen Dom ist ein Werk des vorerst letzten Apoldaer Glockengießers Peter Schilling. Als er es 1987 schuf, hatte die Glockenstadt im Thüringischen das Wesentlichste ihrer von Friedrich Schiller sogar in eine seiner berühmtesten Balladen gegossenen Tradition eingebüßt: Die Firma »Franz Schilling und Söhne« war 1972 verstaatlicht und dem Apoldaer Metallbau- und Labormöbelwerk angegliedert worden, 1988 kam das endgültige Aus. Das Glockenspiel für den Berliner Dom wurde bereits im ostthüringischen Pößneck gegossen. Sogar noch weiter, bis ins mecklenburgische Waren/Müritz, musste Peter Schilling ziehen, um ein Glockenspiel für seine Heimatstadt gießen zu können. Es überdauerte Wendewirren und Marktwirtschaft und wird zehn Jahre nach seiner Entstehung nun doch noch eingeweiht. Sinnigerweise am Stadthaus, heute Sitz der Stadtverwaltung und seinerzeit der SED-Kreisleitung, die den Beschluss,
ein Glockenspiel für die Glockenstadt zu stiften, gefasst und sich gleichzeitig noch einen Betrieb, der das Ganze finanzieren musste, ausgeguckt hatte. Die Apoldaer wird's nicht stören - immerhin dokumentiert es ein Stück Stadt- und Industriegeschichte, das genau genommen schon vor 30 Jahren endete. Damals wurde in Apolda die letzte Glocke gegossen. Heute erinnern nicht nur drei Biersorten der einheimischen Vereinsbrauerei und diverse Straßennamen, sondern vor allem ein ebenso gut bestücktes wie geführtes Glockenmuseum- es gilt als das größte seiner Art in Europa - an die Apoldaer Glockengießertradition. In dem soll ab Herbst übrigens auch ein Stummfilm über den Transport des »Decken Pitter« gezeigt werden.
In Köln tut man das Apoldaer Glockenfest übrigens keineswegs als Volksfest aus der ostdeutschen Provinz ab. Beim »Weltglockengeläut« während des Glockenfestes, bei dem per Telefon die Klänge von in Apolda gegossenen Glocken, die heute in Philadelphia, Buenos Aires oder dem australischen Tanunda zu Hause sind, auf den Apoldaer Marktplatz übertragen wurden, ertönte auch die dunkle Stimme der Kölner Domglocke für fünf Minuten. Das ist keine Alltäglichkeit. Normalerweise scheppert der »Decke Pitter« schließlich nur an hohen kirchlichen Feiertagen.
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