Wenn der Westen nicht abrückt...

Al-Qaida, der Terror und der Krieg gegen den Terror

  • Heinz-Dieter Winter
  • Lesedauer: 5 Min.
Der britische Journalist Jason Burke war dabei, als im November 2001 B-52-Bomber der US-Air Force die afghanische Höhlenfestung Tora Bora bombardierten und die U.S.-Army mit ihren afghanischen Hilfstruppen Osama bin Laden und sein Terrornetz liquidieren wollte. Das gelang bekanntlich nicht, im Gegenteil, die Netzwerke wurden zahlreicher und dehnten sich aus. Dem Journalisten aber wurde klar, dass in »Tora Bora ein weitgespannter und komplexer historischer Prozeß kulminiert war«, der viele Fragen aufwirft und dringend der Analyse und Erklärung bedarf. Seit dem 11. September 2001 wird der Büchermarkt mit Publikationen über den Terrorismus islamistischer Prägung, der die Religion des Islam für seine Untaten missbraucht, überschwemmt. Nur wenige beantworten die Fragen, die sich Burke damals stellte und die viele Menschen bewegen. Dafür setzen sich falsche Annahmen immer stärker durch. Besteht denn wirklich die Gefahr der Errichtung eines »radikalen Islamischen Reiches von Spanien bis Indonesien«, wie Präsident Bush am 6. Oktober verkündete? Es ist verständlich, dass die Menschen wissen wollen, was zu tun ist angesichts »einer der ernstesten Gefahren für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit«, wie auf der diesjährigen 60. UNO-Vollversammlung formuliert wurde. Und wohin der vom US-Präsidenten erklärte »Krieg gegen den Terror« noch führen wird. Nach Aussage des amerikanischen Verteidigungsministers Rumsfeld wird er noch Jahrzehnte dauern - ein Krieg, der auch die europäischen Metropolen erfasst, Jason Burke hat ein Buch über Al-Qaida geschrieben, das aus der Menge der Publikationen von wirklichen oder selbst ernannten Terrorismus-Experten herausragt. Der Chefreporter des »Londoner Observers« schildert auf der Grundlage seiner Erfahrungen und Erkenntnisse vor Ort, in Afghanistan, Pakistan, Indien, Irak und in anderen, unter terroristischen Aktivitäten leidenden Regionen, nicht nur die Entwicklung von Al-Qaida und anderer Terrornetzwerke. Er geht mit beeindruckender Akribie auch den historischen Umständen und Quellen nach, aus denen das Phänomen des islamistischen Terrorismus erwuchs. Burke wirft der Politik vor, dass sie nicht besonnen und vorbehaltlos den Ursachen des radikalen Islamismus auf den Grund ging und geht. »Vielmehr beherrschen die "Experten der Terrorismusbekämpfung" mit ihrem militärischen Vokabular ... die Debatte darüber, mit welchen Strategien der Krieg gegen den Terror zu führen sei, fast vollständig. Doch mit Ausrottung lässt sich möglicherweise das Symptom beseitigen, aber niemals die ursächliche Krankheit behandeln.« Burke sieht den Islamismus, der sich vor 30 Jahren verstärkt auszubreiten begann, als anspruchsvollen und ernsthaften Versuch in der islamischen Welt, »auf die Herausforderung durch die kulturelle, wirtschaftliche und politische Überlegenheit des Westens eine islamische Antwort zu finden«. In der breiten Bewegung des modernen militanten Islamismus würden bin Laden und Al-Qaida zum radikalen, extremistischen Rand gehören. Der Autor begründet plausibel, dass bei allem religiösen Vokabular auch deren Ziele »eigentlich politischer Natur sind« und in sozialen, ökonomischen und politischen Zusammenhängen wurzeln. Das Streben nach sozialer Gerechtigkeit sei sehr deutlich. Jene jungen Männer, die den Djihad, den »Heiligen Krieg«, suchten und sich al-Qaida anschlossen, hätten »ihre guten Gründe«, die in der islamischen Welt von vielen Menschen gebilligt würden, auch wenn Terrorismus abgelehnt wird. Solch analytische Schärfe ist in anderen Publikationen weniger zu finden. In den Büchern von Jean-Charles Brisard und Berndt Georg Thamm vermisst man differenzierende Aussagen und tiefere Einblicke in Zusammenhänge. Brisard, Chef einer Pariser Wirtschaftsauskunftei, ermittelt im Auftrag von Anwälten von Familien, die Opfer beim Angriff auf das World Trade Center zu beklagen hatten, gegen die Hintermänner der Anschläge. Er verfolgt die blutige Spur des Terrors bis hin zu den Anschlägen im März 2004 in Madrid. Minutiös schildert er den Werdegang des Jordaniers Abu Mussab al-Sarkawi vom Kleinkriminellen zum Top-Terroristen. Ihm werden die meisten Terrorakte in Irak zugeschrieben. Die mit Sarkawi verbundene Eskalation der Gewalt verkörpert für Brisard das neue Gesicht von al-Qaida. Der Franzose stützt sich maßgeblich auf Geheimdienstunterlagen. Solche Quellen erfordern allerdings ein kritisches Herangehen. Jason Burke zeigt an Beispielen, dass »Geheimdienste lügen, betrügen und täuschen, denn Propaganda ist eine ihrer Hauptaufgaben«. Und man weiß ja, wie Geheimdienstinformationen für den Irak-Krieg produziert wurden! Der französischen Regierung wirft Brisard eine zu weiche Haltung und »diplomatische Unbedarftheit« gegenüber dem »radikalen Islam« vor. Seine Darstellung Syriens als »Schlüsselstellung« für die Djihad-Terroristen - ohne Analyse der realen syrischen Interessenslage und der regionalen politischen Situation - liefert den Falken in den USA, ob der Autor das will oder nicht, Rechtfertigung für den nächsten Präventivkrieg. Dass der Krieg gegen Irak Sarkawi und anderen Terroristen neue Freiräume geschaffen hat, ist keinem der Experten entgangen. Thamm geht in seinem Buch zurück bis in die Zeit der Kreuzzüge und des Kolonialismus und sieht in Demütigungen der islamischen Welt durch den Westen Beweggründe für Terrorismus. Der Westen erzeuge ein »Gefühl der Bedrohung«, zitiert er einen hohen Beamten des Auswärtigen Amtes. Doch warum ändert dann der Westen seine - in vieler Hinsicht - demütigende Politik gegenüber der islamischen Welt nicht? Burke fordert eine Abkehr von der bisherigen westlichen Politik. Angesichts der Erfolgs- und Ergebnislosigkeit des »Krieges gegen den Terror« hält er einen »grundsätzlichen Paradigmenwechsel« für notwendig, der zu einem »neuen Verständnis« und »neuen Lösungswegen« führen muss. Solange dies nicht geschieht, wird der Terrorismus weiter um sich greifen, immer mehr Opfer fordern. Jason Burke: Al-Qaida. Wurzeln, Geschichte, Organisation. Artemis & Winkler, Düsseldorf/ Zürich. 414 S., geb. 28 . Jean-Charles Brisard: Das neue Gesicht der Al-Qaida. Sarkawi und die Eskalation der Gewalt. Propyläen, Berlin. 334 S., geb., 22 . Berndt Georg Thamm, Al-Qaida: Das Netzwerk des Terrors. Diederichs, München. 246 S., geb., 19,95

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.