Asylbewerber im »Legoland«
ANDREJ IWANOW: »Hanumans Reise nach Lolland«
Ein Quäntchen Lebenserfahrung des Schriftstellers Andrej Iwanow steckt mit Sicherheit in Sid, dem Erzähler seines Romans. Übersetzerin Friederike Meltendorf zeigte feines Gespür für den unbeschreiblichen, deftigen Slang, den alle Figuren des Buches sprechen. Sie suchen Asyl in Dänemark, sind gerade illegal eingereist, bereits als Asylbewerber anerkannt oder mit dem Ablehnungsbescheid von Abschiebung bedroht - Russen, Georgier, Armenier, Polen, Serben, Albaner, Kurden, Iraker, Iraner, Äthiopier, Somalier, Kongolesen, Nepalesen, Pakistaner und Inder. Ein buntes Völkergemisch haust Ende der 1990er Jahre in dem Flüchtlingslager Farsetrup, zwischen nach Gülle stinkenden Feldern und einer spießbürgerlich-idyllischen, gleichsam gekämmten Kleinstadtwelt mit akkuraten Blumenbeeten und misstrauischen Bewohnern.
Der Inder Hanuman, der nicht umsonst den Namen des hinduistischen Gottes mit dem Affengesicht trägt, hat in Chandigarh, der von Le Corbusier konzipierten Blumenstadt, Kunstwissenschaft studiert und das Land, »in dem sie den Buddhismus erfunden haben und jetzt Atomtests durchführen«, verlassen, um nach Amerika zu gehen und dort Karriere zu machen. In Dänemark ist er stecken geblieben. Hanumans Phantasie - der Erzähler nennt sie »Hanumanie« - ist unbegrenzt. Er hält sich für ein Universalgenie, in der Lage, jede Aufgabe zu lösen, als Fachmann für die indische Küche, Yogalehrer oder Computerspezialist. In Farsetrup, noch ohne Aufenthaltsgenehmigung, setzt er alles daran, nicht dem »Pennersyndrom« zu erliegen, untätig abzuwarten und die spärliche Stütze für Zigaretten, Whisky, Koks und Nutten auszugeben. Statt dessen entwickelt er »Projekte«, organisiert Schwarzfahrten, verübt Supermarktdiebstähle, zapft die Telefonanlage des Rathauses an und knöpft allen Asylanten, die in die Heimatländer telefonieren wollen, so viel Geld ab, wie er braucht, um seinen Bedarf an Wein und Haschisch zu stillen. Menschen, die er »verarschen« kann, verachtet er. Das behäbig satte »Legoland« hasst er. Im Flüchtlingslager reduziert sich Hanumans Traum von Amerika allmählich auf den Wunsch, auf die dänische Ostseeinsel Lolland (das »dänische Ibiza« und »skandinavische Paradies«) zu fahren, »wo einem Ecstasy in den Mund fällt« und »sich halb nackte Mädchen wie Robben im Pool aalen«.
Der Erzähler Sid, der sich als »Jewgeni Sidorow aus Jalta« ausgibt, lebt als »Lagerratte« in dem »himmelstinkenden jülländischen Camp«, weil er als Russe in Tallinn Konflikte mit den Behörden bekommen hat. Insgeheim träumt er von Petersburg und einer dort wirkenden Schauspielerin. Er schreibt Gedichte, kennt sich in Philosophie und Weltliteratur aus, verhält sich aber nicht anders als die übrigen Asylanten. Was ihn auszeichnet, ist sein unbestechlicher Blick auf Land und Leute im »Königreich DK«, in dem die Zuwanderer sich als Menschen zweiter Klasse fühlen.
Andrej Iwanow ist einer der begabtesten Debütanten in der zeitgenössischen russischen Literatur. Er wurde 1971 im estnischen Tallinn geboren, absolvierte dort ein Lehrerstudium. Von 1998 bis 2001 hielt er sich in Dänemark und Norwegen auf, arbeitete bei Telefonfirmen, besuchte Flüchtlingslager und eine Hippie-Kommune und schrieb die erste Version des Romans in »Refugee English« nieder. Nachdem er mit dem freimütigen Psychothriller »Blonde Bestien« der Petersburger Autorin Marusja Klimowa bekannt geworden war und dank Klimowas Übersetzungstätigkeit ähnliche Werke von Louis-Ferdinand Céline, Jean Genet und Georges Bataille gelesen hatte, entstand 2004/06 in Tallinn die jetzige Fassung von »Hanumans Reise nach Lolland«, die durch die kompromisslose Darstellung des politisch diffizilen Asylantenproblems, die ungeschminkte Zeichnung der Figuren und deren sprachliche Direktheit besticht.
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