Absurde Antiterrorstrategie

AL-QAIDA

  • Arne C. Seifert
  • Lesedauer: 3 Min.

Al-Qaida, Bin Laden, terroristische Dschihadisten; 11. September, Irak, Abu Ghraib, Afghanistan, Soldatensterben, Verkrüpplungen, Zerstörung; Menschenschlachten, Guantanamo, Waterboarding - ein Jahrzehnt »War on Terror«. Lässt sich darüber emotionslos berichten? Wenn also Zorn über Verbrechen gegen die Menschlichkeit kein allein taugliches Kriterium für den Umgang mit solch schwieriger Materie ist - welche sind es dann?

Christina Hellmich stellt Fragen: Was ist al-Qaida? Ist dessen Netzwerk militärisch besiegbar und hält die Notwendigkeit eines globalen Krieges einer rationalen Begründung stand? Welche Ideologie vertritt al-Qaida? Zwingt eine »islamistische Bedrohung« dem Westen »eine Auseinandersetzung um die zivilisatorischen Werte einer globalen Ordnung« auf, wie die CDU-Wertekommission im September 2002 verkündete? Ist al-Qaida mittlerweile geschwächt oder gar zerschlagen? Auf welche Erkenntnisse und Einschätzungen begründete die herrschende politische Klasse des Westens ihre Entscheidungen, unzählige Menschen in Kriegen gegen al-Qaida in Afghanistan und Nahost zu opfern? Wodurch sah sie sich berechtigt, den Umbau ihrer globalen (!) Sicherheits- und Verteidigungsstrategien unserer Öffentlichkeit als Überlebensbedingung zu verkaufen?

Hellmichs Studium Dutzender Analysen sogenannter Experten führte sie zur Erkenntnis, diese könnten nicht einmal einfache Antworten wie etwa »die Beschreibung des Gegners liefern, die zur rationalen Begründung eines globalen Krieges gebraucht werden«. Die Autorin belegt, dass die militärische Ausgangsprämisse, al-Qaida sei als Terrororganisation mit militärisch besiegbaren Strukturen vernichtbar, »einer gründlichen Prüfung nicht stand« hält. Das Beweismaterial sei »bisweilen dürftig, wenn nicht gar unglaubwürdig.« Die zu bekämpfende Quelle von Anschlägen, also die »real existierende al-Qaida«, entzog und entzieht sich »allen Versuchen, sie klar und eindeutig zu bestimmen«.

Die Autorin konstatiert, dass die »Reaktion auf al-Qaida in Form eines uneingeschränkten Krieges insofern kontraproduktiv ist, als sie das Bild der USA und ihrer Verbündeten als repressive Besatzungsmacht, die Leid über Muslime bringt und mit der islamischen Welt auf Kriegsfuß steht, nur noch verstärkt«.

Hellmichs Fazit aus dem globalen Krieg gegen den Terror: »Aggressive Konfrontationen mit dem Feind … tragen wenig dazu bei, die USA und den Westen vor dem Zorn und den gewalttätigen Überfällen radikaler Dschihadisten zu schützen.« Und: »Ein erheblicher Teil des Krieges gegen al-Qaida ist ein Kampf der Ideen, der militärisch nicht gewonnen werden kann.«

Hellmich kritisiert des Weiteren, dass der Westen sich niemals mit der Botschaft Osama bin Ladens ernsthaft auseinander gesetzt habe. Vor allem, warum sich mit ihr Muslime identifizieren. Die Autorin sieht Ursprünge des aktuellen Problems im frühen 13. sowie 18. und 19. Jahrhundert. Im Kern widmen sich Bin Ladens Botschaften dem Schicksal der muslimischen Umma, der islamischen Gemeinschaft, die sich der »fernen« und »nahen« Verursacher ihres drohenden Zer- und Verfalls erwehren müsse. Zentraler Bezugspunkt der von Hellmich analysierten »Fatwas« (islamisches Rechtsgutachten), Videoerklärungen und Schriften Bin Ladens und dessen Anhänger ist das »Leid von Muslimen im Irak und Palästina, in Kaschmir und Bosnien, das eine direkte Folge der amerikanischen beziehungsweise westlichen Aggressionspolitik ist«.

Ein aufrüttelndes Trauma war der Tod 500 000 irakischer Kinder als Folge der Wirtschaftssanktionen nach dem zweiten Golfkrieg 1991, der nach der damaligen US-amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright die politischen Ziele der USA wert gewesen sei. 1998 verurteilte Bin Laden die Nahostpolitik der USA als »Kriegsführung gegen Gott.«

Die Erkenntnisse zu den Fragen »Al-Qaida - wiedererstarkt?« sowie nach deren Perspektiven sind leicht zusammengefasst: Das hauptsächliche Potenzial der Ideen Bin Ladens, al-Qaidas und anderer islamistischer Extremisten liegt letztendlich, so Hellmich, in der »Strahlkraft ihrer Ideen«.

Das Buch von Christina Hellmich war mehr als überfällig. Lange schon schwelt der Verdacht, dass die NATO-Verbündeten an einer friedlichen Regelung des Terrorismuskonflikts nicht interessiert waren und sind, weil sie ganz andere Ziele verfolgten, nämlich Nahost unter ihrer Hegemonie zu halten. Letzteres kann als bestätigt gelten, seitdem sie al-Qaida als einen regionalen Stellvertreter im Anti-Assad-Krieg tatkräftig unterstützen - ihren bisherigen »Erzfeind«, den sie doch eigentlich vernichten wollten.

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