Interventionsvehikel?

MENSCHENRECHTE OHNE DEMOKRATIE

  • Hermann Klenner
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Lebensweg der Autorin ist beeindruckend: Nach ihrer Dissertation über die Menschenrechtspraxis der Vereinten Nationen und die Rechtsstellung der Frau in der Schweiz arbeitete Gret Haller für die Europäische Menschenrechtskonvention im Eidgenössischen Justizdepartement, war vier Jahre Mitglied der Berner Stadtregierung, dann Mitglied des Schweizer Nationalrates und sogar dessen Präsidentin. Sie gehörte auch den Parlamentarischen Versammlungen von Europarat und OSZE an, war Schweizer Botschafterin beim Europarat und danach Ombudsfrau für Menschenrechte der OSZE für Bosnien & Herzegowina in Sarajewo.

Seit 2007 ist sie Mitglied der Kommission des Europarates für Demokratie durch Recht. Die hier vorzustellende Monografie ist das produktive Ergebnis ihrer Tätigkeit als Gastwissenschaftlerin an der Juristenfakultät der Goethe-Universität zu Frankfurt am Main, in die natürlich ihre jahrzehntelangen Praxiserfahrungen eingegangen sind. Ihre Erkenntnisse sind von fundamentaler Bedeutung und hochaktuell überdies.

Gret Haller zeichnet nicht nur den Entwicklungsweg von Theorie und Praxis der Menschenrechte in den letzten vier Jahrhunderten nach, sondern scheut auch nicht davor zurück, die im Namen der Menschenrechte betriebenen Interventionismen bloßzulegen, mit denen die sich als Gralshüter der Menschenrechte ausgebenden Imperien ihre Interessen kriegsandrohend oder -führend durchzusetzen versuchen. Die »revolutionäre Seite der Menschenrechte« zeige sich dabei nicht nur in nationalem Widerstand, sondern auch in »individueller Dissidenz«.

In den umfangreich erörterten Grundlagen für die spätere Entwicklung der Menschenrechte wird völlig zurecht den Gedankengebäuden von Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant die größte Bedeutung beigemessen. Zutreffend wird Rousseau gewürdigt, der als Erster erkannte, dass die Freiheit des Einzelnen nur dann mit der Durchsetzung einer Staatsordnung vereinbar ist, wenn letztere aus der Selbstgesetzgebung durch die dem Staat unterworfenen Individuen hervorgeht. Kritisch sei bei diesem Abschnitt vermerkt, dass die Etablierung der Menschenrechte im Wesentlichen intellektuell begründet bleibt, deren objektive Voraussetzungen aber in Gestalt der Erfordernisse kapitalistischer Produktions- und Lebensverhältnisse vernachlässigt werden. Was Locke anlangt, so findet sich hier die Klischee-Behauptung, dass er das Privateigentum mit der Arbeit begründet habe, was insofern oberflächlich ist, als es sich bei Locke nicht um die Arbeit des Privateigentümers handelt, sondern um die des Arbeiters, und der wird gerade nicht durch seine Arbeit Eigentümer. Und über das, was Gret Haller zum Menschenrechtsverständnis des Juristen Marx schreibt, der als Gefangener seiner ideologischen Prämissen ein vernichtendes Urteil über die Bürgerrechte gefällt, ja sogar das Recht als Ganzes diskreditiert habe, wollen wir großzügig hinwegsehen und es auf die Quellenunkunde der Frankfurter Schule schieben.

Gedankenreich und in vieler Beziehung neuartig sind der Autorin Darlegungen über die Menschenrechtsentwicklung seit Frankreichs revolutionierender »Declaration des Droits de I'Homme et du Citoyen« von 1789 und mehr noch die Art, wie sie die Menschenrechtskrise seit 1989 problematisiert: Einerseits sei die einsetzende Internationalisierung von Menschenrechten auf Kosten ihrer demokratischen Legitimation sowie des notwendigen Zusammenhanges von Freiheit und Gleichheit erfolgt. Andererseits habe das Ende des Kalten Krieges die Schleusen für einen neuen Interventionismus geöffnet, der im Namen von Menschenrechten betrieben wurde. So geschehen, als sich im Falle des USA-Krieges gegen Irak die anfängliche Begründung als haltlos erwiesen hatte, die »humanitäre Intervention« als neue Begründung für die Aggression aufgeboten wurde. Was nichts anderes bedeutet, als die Menschenrechte zu einer hegemonialen Technik der internationalen Politik verkommen zu lassen, der sich unterschiedliche Konfliktparteien bedienen können, um ihrem partikularen Interesse eine universale Wendung zu geben. Zwangsexport von Menschenrechten wie deren aufgezwungener Import negierten neben dem Völkerrecht den Zusammenhang des Selbstbestimmungsrechtes der Individuen mit dem des Volkes. Menschenrechte ohne Demokratie gebe es so wenig wie Demokratie ohne Menschenrechte!

Besonders gefährlich seien die Versuche, mit religiösen und/oder moralischen Kategorien die demokratisch legitimierten juristischen Kategorien zu dominieren oder gar zu substituieren. Wenn etwa Militärs sich moralisch für berechtigt halten, »Kollateralschäden« zu verursachen, indem sie unter Missachtung des Völkerstrafrechts zu töten befehlen. Oder wenn Polizeipräsidenten mit Folter drohen zu dürfen glauben oder ein UN-Sicherheitsratmitglied foltert und Käfighaltung von Menschen betreibt. »Entmenschlichung durch Moralisierung« nennt Haller solche Vorgänge, bei denen die Grundrechte den Grundwerten subordiniert werden.

Menschen sollen von Menschenbildern abhängig gemacht werden, an deren Formierung sie sich nicht haben beteiligen können. Da fänden sich neben dem wohlbekannten christlich-abendländischen oder dem asiatischen sogar ein »Menschenbild der NATO« und andere Kuriositäten, mit deren Hilfe zwischen moralisch überlegenen Nationen einerseits und »Schurkenstaaten« andererseits unterschieden wird. Mit »Moralisierungskeulen« ebenso wie mit einem Verständnis von Menschenrechten, das letztlich in einer alleinseligmachenden Religion oder in einem sich aus dem Mischmasch aller Religionen gemeinsam ableitbaren Ethos verankert sei, werden in Wirklichkeit die Menschenrechte als eben Rechte eines jeden Menschen ausgehebelt. Freilich reife international die Erkenntnis, dass es genau solch ein »Gut/Böse-Raster« sei, das die internationalen Konflikte unlösbar werden lasse.

Die womöglich revolutionärste Seite der Menschenrechte bestehe darin, dass die Menschen ihre Verantwortung für ihre eigene Welt auch wahrnehmen und einen Schutzwall gegen die um sich greifende Entdemokratisierung bilden. Warum eigentlich sei angesichts einer ganze Generation von Menschen in Bedrängnis bringenden Finanz- und Wirtschaftskrise noch kaum jemand im privilegierten Westen auf die Idee gekommen, das Grundrecht auf Eigentum in einer völlig neuen Weise zu buchstabieren? Wer solch eine Frage im Lichte der Hungerkatastrophen Afrikas oder der Niederschlagung von Demonstranten in arabischen Ländern als zynisch einstufe, der habe die Fähigkeit eingebüßt, die Gefährdung der Menschenrechte im eigenen Umfeld zu erkennen.

Offensichtlich sieht Gret Haller in Kant denjenigen, der in noch heute gültiger Weise die Gleichheit der Menschen als Voraussetzung dafür begriffen habe, dass ihre Freiheit zum Tragen kommen kann. Wer freilich diesen Gedanken zu Ende denkt, dass nämlich das Recht auf Gleichheit ein konstituierendes Element des Rechts auf Freiheit ist - und nicht wie die herrschende Auffassung bloß eine mögliche Folge von Freiheitsrechten -, der wird den Zustand der Weltgesellschaft von heute als grenzwertig einschätzen, was die Menschenrechte anlangt. Das allerdings ist kaum die Auffassung der Autorin, wohl aber die Meinung des Rezensenten.

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