Türkei im Vormarsch

Evrim Sommer über den syrisch-türkischen Konflikt

  • Evrim Sommer
  • Lesedauer: 4 Min.
Erneut hat am Montag die türkische Luftwaffe ein in Richtung Syrien fliegendes Flugzeug abgefangen. Im Süden der Türkei verstärkt das Land seine Truppenpräsenz. Aus dem syrischen Konflikt droht ein zwischenstaatlicher Krieg zu werden. Ein Gastbeitrag der Berliner Linke-Abgeordneten Evrim Sommer.
Evrim Sommer ist Frauen- und entwicklungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin.
Evrim Sommer ist Frauen- und entwicklungspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus von Berlin.

Der Konflikt zwischen der Türkei und Syrien spitzt sich von Tag zu Tag weiter zu. Erinnern wir uns: Auslöser für die Eskalation war ein Granaten-Beschuss der syrischen Armee vor zwei Wochen bei dem fünf türkische Zivilisten getötet wurden. Kurz darauf beschloss das türkische Parlament mit der Mehrheit der islamischen Regierungspartei (AKP), dass zukünftig militärische Interventionen ohne Konsultation des Parlaments möglich seien. Erdoğans Regierung kann seither im Alleingang Militärschläge durchführen. Wenig später demonstrierte der Generalstabschef mit einem Besuch türkischer Soldaten an der syrischen Grenze die militärische Aufrüstung in der Grenzregion. Während der türkische Ministerpräsident Erdoğan immer wieder von Vergeltungsschlägen spricht, zwang die Türkei vergangene Woche ein syrisches Passagierflugzeug zur Landung. Der Konflikt droht zu eskalieren.

Die Frage stellt sich: Warum riskiert die Türkei, in diesen Konflikt hineingezogen zu werden oder gar einen Flächenbrand auszulösen. Schon seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien ist die Türkei in den Konflikt involviert. Nicht nur hat sie bisher Zehntausende Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen, sie unterstützt auch logistisch die Armee der Rebellen – die Freie Syrische Armee (FSA). Diese agiert vom türkischen Territorium aus. Auf der türkischen Seite gibt es Ausbildungslager für syrische Deserteure. Auch der Waffennachschub für die Rebellen läuft teilweise über die Türkei. Somit müssen wir uns vielmehr die Frage stellen: Welches Interesse hat die Türkei an diesem Konflikt?

Eine Antwort auf diese Frage fällt nicht schwer, vergegenwärtigt man sich die Ambitionen des türkischen Ministerpräsidenten Tayip Erdoğan. Mit Beginn des Niedergangs des Assad-Regimes wuchsen die Hoffnungen des türkischen Präsidenten, mit seiner islamisch-konservativen Regierung eine Vormachtstellung im Nahen Osten zu etablieren. Vor wenigen Wochen präsentierte er sich auf dem Parteitag der AKP als Präsident einer zukünftigen Führungsmacht in einem sunnitisch-dominierten Nahen Osten. Eingeladen waren zu dem Parteitag sunnitische Führer wie der ehemalige irakische Vizepräsident Tarik al-Haschemi, Hamas-Anführer Chalid Maschaal und der neue ägyptische Präsident Mohammed Mursi.

Der Wirtschaftsaufschwung in der Türkei begünstigt dabei eine solche Außenpolitik. Es ist zu erwarten, dass dieses Land zu einer der wichtigsten Wirtschaftsmächte im Nahen Osten wird – wenn sie das nicht schon ist. Erdoğan selbst sieht in der Türkei einen modernen islamischen Modellstaat. Dieses Modell will er im Nahen Osten verbreiten – als Alternative zum »Mullah-Staat« Iran.

Das neue türkische Selbstbewusstsein darf nicht unterschätzt werden, birgt es doch große Gefahren. Zunächst fürchtet die internationale Gemeinschaft, die Türkei könnte durch ihr selbstbewusstes Säbelrasseln einen Flächenbrand in der instabilen arabischen Welt auslösen. Klare Aufrufe zur Besonnenheit äußerte bereits die Obama-Regierung, die EU und auch Angela Merkel. Der NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen verkündet zwar, die NATO stehe im Falle eines Krieges hinter der Türkei, aber auch er artikuliert eher beschwichtigende Worte.

Auf deutscher Seite gibt es jedoch keine erkennbare politische Linie. Die Bundesregierung ist in einem Dilemma gefangen: Auf der einen Seite braucht sie die Türkei als Wirtschaftspartner, als Waffenkäufer und Absatzmarkt. Auf der anderen Seite hat Deutschland – wie die meisten EU-Mitgliedstaaten – kein besonderes Interesse an der Machtausweitung eines islamisch geprägten Landes. Deshalb zieht Merkel eine privilegierte Partnerschaft der EU-Vollmitgliedschaft der Türkei vor.

Ein weiteres Problem wird mitunter völlig ignoriert: Im türkischen Ostanatolien herrscht seit 20 Jahren ein Bürgerkrieg. Das türkische Militär bekämpft die Kurden, seien es Guerilla-Kämpfer oder Zivilisten. Über 40.000 Menschen starben bisher auf der kurdischen Seite. Tagtäglich werden Journalisten, die kritisch über die politische Situation berichten, in ihrer Arbeit behindert oder gar inhaftiert. Auch Vertreter der pro-kurdischen Partei und andere gewählte Abgeordnete des türkischen Parlaments wurden nach einem Anti-Terrorgesetz inhaftiert und zu langen Haftstrafen verurteilt.

Tayip Erdoğan und seine AKP haben innerhalb der letzten zehn Jahre auf allen Ebenen und Institutionen ihre Macht im türkischen Staat stark verfestigt. Statt den Konflikt zu lösen, wird er verschwiegen und Widerstand gegen die türkische Politik blutig unterdrückt. So versucht Erdoğan nun auch mit dem Syrienkonflikt von diesem mittlerweile chronischen Kriegszustand im eigenen Land abzulenken. Und eine weitere Fliege schlägt er mit dieser Klappe. Denn in jener türkisch-syrischen Grenzregion, in der er nun die Militärpräsenz verstärkt, leben überwiegend Kurden.

Wir müssen uns – bei allem Respekt für einen moderaten Islam – nun ernsthaft fragen, wie kann die Türkei ein Modellstaat sein, wenn sie die demokratischen Grundrechte ignoriert, einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung führt, die Islamisierung trotz der laizistischen Grundprinzipien des Landes voran treibt und versucht, sich als Großmacht im Nahen Osten zu etablieren? Gar nicht! Und wir dürfen nicht zulassen, dass ihr Modell Schule macht.

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