Wie unerhört es tönte
»Das Jahr 1912« - Berliner Philharmoniker musizierten Schönberg, Webern, Debussy
Passable Idee, jenes Jahr einmal einzukreisen, oder, wie heute jeder Jungdackel ruft, zu fokussieren. Unter dem Motto: »Das Jahr 1912«. Einmal zu zeigen, was zwei Jahre vor der »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« in der Musik sich an Unerhörtem zutrug. Im Zeichen von Krise und Übersättigung, von überdehnter Chromatik der Strauss, Wagner, Mahler, von Kulturkonjunktur und Riesenorchesterapparaten, von imperialen Gefühlen und nationalistischen Rauschzuständen, von Aufrüstung und Kriegsgeschrei und dem Ruf nach Neuaufteilung der Welt.
Ihre ersten großen atonalen Entwürfe hatten so viel Neuheitswert und schmerzten darum in den Ohren, dass Aufführungen Schönbergs und seiner talentiertesten Schüler Skandale auslösten, zumindest als etwas, das abgelehnt gehört, in der Öffentlichkeit die Runde machten. Schönberg war um das Jahr 1912 und lange später in konservativen Kreisen verschrien, Webern desgleichen (in anderer Art später auch Alban Berg und Hanns Eisler). Lehrer und Schüler zogen sich jedoch niemals zurück, sondern komponierten stolz atonal weiter, d. h. sie verblieben eigentlich im tonalen System, nur extremisierten sie das Material der chromatischen Skala derart, dass der Quintenzirkel aus den Fugen geriet und Tritoni, Sekund-, Quart- und Nonschritte, verminderte Akkorde, sodann heftigste harmonische, rhythmische Ungereimtheiten und dynamische Schleuderübungen durch die Faktur geisterten.
Das trieb, gut vorstellbar, in manch bürgerliches Hirn die Weißglut. Zentral sind die »Fünf Orchesterstücke« op. 16 von Schönberg - wer sie als junger, begeisterungsfähiger Mensch gehört hat, dem dürften sie haften geblieben sein. Nicht minder die »Sechs Orchesterstücke« op. 6 von Webern, ein Werk, ganz in den Spuren Schönbergs und doch schon Eigenes ankündigend. Eine Seite der Musikgeschichte, wie sie spannender nicht sein konnte. Schönbergs jenes im Frührot Wuchernde, Unorganische in ein System bringende Zwölftontechnik ward noch nicht geboren.
Mitglieder der Berliner Philharmoniker und Gäste boten unter Dirigent Michael Hasel Kammerversionen besagter Werke, überdies Schönbergs »Pierrot lunaire« op. 21 und eine auf elf Musiker reduzierte Fassung von Debussys Orchesterwerk »Vorspiel zum Nachmittag eines Fauns«, das mit 1912 nichts zu tun hat, es entstand vorher, wohl aber in ein Geschehen gehört, das 1918 anhob.
Schönberg, die Nase voll von dem Gewettere der Leute, die seine Musik nicht kapieren, nicht anerkennen wollten, gründete in dem Jahr den »Verein für musikalische Privataufführungen«. Der erlaubte in den Konzerten nur Mitglieder und bot Kammermusik, die in die Zukunft wies. Etwa von Varese, Reger, Debussy, Schönberg und Schülern desselben. Manche Bearbeitung entstand. Kurios: Schönbergs gewaltiges op. 16 gibt es satzweise sogar in einer Fassung für zwei Klaviere achthändig. Schade, dass sie unter »Das Jahr 1912« nicht gespielt wurde. Stattdessen kam das musikgeschichtsmächtige Werk in einer vorzüglich gebotenen Ensemblefassung, die Felix Greissle 1920 entworfen hat und im selben Jahr in Prag erstmals zur Uraufführung kam. Die vollständige Orchesterfassung von op. 16 erklang erstmals 1912.
Das Interessante an den Bearbeitungen: Sie haben Erkenntnischarakter. Sie büßen zwar an Farbe ein, selbstredend an Masse und Ballung, aber sie legen die Geflechte offen. Vernehmlicher, weil durchsichtiger als beim Hören des Originals scheinen die Haupt- und Nebenstimmen, begreifbarer die Gesamtarchitektur.
Tiefer einzudringen, ermöglichte gleichermaßen die Aufführung der Webern'schen »Sechs Stücke« op. 6, 1913 uraufgeführt und 1920 umgearbeitet für Kammerorchester. Radikal gestisch, angriffsfreudig ist dieses Stück, die Sätze sind kürzer als bei Schönbergs op. 16. Markante Einsätze hat das teils aggressive Schlagzeug. Thematische Arbeit scheint aufgekündigt. Gelegentlich schrammt durch Sätze jäh Rufendes. Überzeugend die Wiedergabe.
Oft holprig, ungenau hingegen die des Melodrams »Pierrot lunaire« für eine Sprechstimme und fünf Instrumentalisten (Text: Albert Giraud, Übersetzung: Otto Erich Hartleben), aufgeführt zum 100. Jahrestag der Uraufführung in Berlin. Allenthalben der Solopart der Schauspielerin Barbara Sukowa ließ zu wünschen übrig - bei aller Bemühung und trotz manch gelungener Passage. Ihre größte Schwierigkeit: die Notierungen der Sprechstimmenmelodik zu treffen und musikalisch auszugestalten. Wohlgemerkt musikalisch auszugestalten, wie das versierte Sängerinnen tun.
Es glückte ohne Abstrich das Ende, die Nr. 21 »O alter Duft«. Verblüffend: Bei der Schlusszeile »O alter Duft - aus Märchenzeit«, gepaart mit tonalen Zärtlichkeiten in den Begleitstimmen, verzögert die Sprecherin auf »Märchenzeit« das »t« so lange, dass man es gar nicht mehr erwartet. Ehe es eintritt, vergehen Sekunden.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.