Nach der Revolution ist Normalität immer relativ

  • Pedram Shahyar
  • Lesedauer: 5 Min.
Ich habe den Downtown von Kairo noch nie so ausgelassen und fröhlich erlebt, wie während diesem Opferfest am Eyd. Im Andenken an Abraham gibt es hier weihnachtsähnliche Feiertage, wo Lämmer oder Kamäle in der Nachbarschaft geschlachtet und an Armeen und Nachbarn verteilt werden. Die Geschäfte öffnen trotzdem am Abend im Downtown südlich vom Tahrirplatz und Jugendliche strömen in den Cafes, auf die Brücken oder in den Partyschiffen auf dem Nil. Auch die Taxifahrer sind gut drauf. „Die Revolution ist vorbei. Es war gut, aber ist vorbei", sagt der erste, „Mosri ist gut, Ägypten ist jetzt super" der zweite, „im Downtown keine Demos mehr, alles sicher" ein anderer.

Dabei waren am letzten Freitag mehrere Zehntausend Menschen auf dem Tahrir, auf der ersten großen Anti-Mosro Demonstration der linken und liberalen Gruppen. Akram von der agäyptischen Linkspartei „Die Sozialistischen Volksallianz" zeigt mir voller Begeisterung die Fotos vom dem Marsch auf seinem Smartphone. Amal vom der Bewegung „6. April", eine Art Attac in Ägypten ist wie immer skeptisch: „ja, es waren viele, 30 bis 50.000. Aber das ist noch viel zu wenig, damit können wir die Machtfrage nicht stellen".

Dabei hatte es noch nie eine Demonstration der säkularen Kräfte in dieser Größenordnung gegeben. In der Woche davor am 12. Oktober waren die Progressiven Gruppen auf dem Tahrir gekommen „höchstens einige Tausend, für eine kritische Beurteilung der ersten 100 Tage Mosris" wie Akram es beschreibt. Eine eigentlich sehr harmlose Mobilisierung. Doch es hatte auch Parallel eine Mobilisierung von Teilen der Muslimbrüder gegeben, um gegen den Widerstand der Justiz gegen Mosri zu demonstrieren. Teile der Muslimbrüder fingen dann an, die Bühnen der linken Gruppe um den Präsidentschaftskandidaten Sabbahi zu attackieren und zu besetzen. Es kann zum ersten Mal zu einer längeren Straßenschlacht zwischen revolutionären Aktivisten und den Muslimbrüdern, woraufhin die Islamisten mit Einsatz von Steinen aus dem Platz vertrieben wurden. Die Versuche der Muslimbrüder sich als Opfer darzustellen scheiterten in der Berichterstattung. Und so konnte am letzten Freitag am 19. ein neues Bündnis von Linken und Liberalen den Tahrir zum ersten Mal gut füllen. Und das ist die beste Nachricht aus Ägypten: ein neuer dritter progressiver Block entsteht hier, neben den Islamisten und Vertretern des alten Regimes. Nach dem Erfolg dieser Mobilisierung bereiten sich die linken, liberalen und sozialdemokratischen Formationen auf einer gemeinsamen Kandidatur für die bald anstehendend Neuwahlen des Parlaments vor.

Neben Al Bardadai ist die wichtigste Figur in diesem Block Hamdeen Sabbahi. Er ist ein alter Nasserist mit einer aktivistischen Biographie und trat mit einem klar prorevolutionären und sozialen Profil im Wahlkampf auf. In der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen bekam er sehr überraschend fast 20 % der Stimmen, und gewann die Großstädte Kairo und Alexandria mit jeweils ca. 35%. Dieser Wahlerfolg dynamisierte nicht nur einen linkssozialistischen Aktivismus, sondern verschob auch die Kräfteverhältnisse in der Opposition. Bei den letzten Parlamentswahlen vor einem Jahr war es das Bündnis „Kottla", das einen dritten Block markieren wollte. Dieser, finanziert durch den Multimilliardären Sawiris, stand noch unter starker Einfluss der Marktliberalen. Die Kräfte die am letzten Freitag auf der Straße waren, sind viel stärker links-sozialdemokratisch und sozialistisch orientiert. Nach deren Erfolg rufen nun die Salafisten zum Gegenschlag aus: Marsch auf Tahrir für die Sharia! Normalität ist hier wirklich relativ, immer nur in der Situation.

Der fröhliche Downtown kann auch die Probleme, die das Land würgen, nicht ganz verbergen. Am späten Abend sieht man an der Tankstelle am Borsa eine riesenlange Schlange,, fast bis zum Platz Talaat Harp. Zur Zeit fehlt es in diesem Land eigentlich an Allem. Während Ramadan gab es ständig Stromausfall. Seit Monaten gibt es keine Gaskatuschen, mit denen in den ärmeren Viertel die Häuser heißes Wasser bekommen und Kochen können. Der Schwarzmarkt blüht, wo sie aber statt 5-10 Pfund 40 oder mehr kosten. „7 Jahre Haft und eine Million Pfund als Strafe für Diebstahl an Gas und Benzin" titelt eine Zeitung, mehr scheint der Regierung nicht einzufallen. Auch Brot und fast alle Grundnahrungsmittel werden ständig teurer. Und nun plant die Mosri-Regierung auch noch die Kürzung von Subventionen, weil sie in Verhandlungen mit der IWF stehen. Sie stehen am Rande des Staatsbankrotts und brauchen dringend neue Kredite, die sie aber nur bei Kürzung von Subventionen bekommen. „Allein die Ankündigung von diesen Plänen hat zum dramatischen Anstieg von Preisen geführt" erzählt Mohammad. „Ein kommender sozialer Aufstand ist sicher", ich bin erstaunt, weit er sonst im Stile eines Journalisten sehr vorsichtig und spärlich mit Aussagen ist. „Du spürst es überall, eine große Unzufriedenheit über die soziale Lage". „Alle Taxifahrer schimpfen über die Verteuerungen" berichtet mir Kristin, „wenn Du mit Ihnen arabisch spricht und nicht als Tourist". Man liest jeden Tag von neuen Streiks, die Lehrer, die Ärzte, an den Häfen, Busfahrer. Inzwischen kommen sie auch ins Zentrum, machen Sitz-Streiks vor dem Parlament oder dem Regierungssitz.

Von all dem ist in diesen schönen Feiertagen im Downtown von Kairo nichts zu spüren. Aber Normalität ist wirklich relativ, und Stabilität wird hier noch lange ein politisches Fremdwort bleiben.
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