Abschied für immer?
Nach neun Jahren fällt die Praxisgebühr. Nicht alle begrüßen das
Die Praxisgebühr endet, wie sie einst begann, mit einem Kuhhandel: Ab 2013 wird sie Geschichte sein, weil damit in einer langen Nacht der schwarz-gelben Regierungskoalition die Zustimmung der FDP zum Betreuungsgeld erkauft wurde. Das bekommen ab August 2013 Familien, wenn sie ihre Kinder nicht in eine Kita schicken.
2003 wurde in einer ebenso langen Nacht der Koalition - damals war es eine rot-grüne - die Praxisgebühr beschlossen. Sie sollte nach einem Gesetzentwurf der damaligen rot-grünen Bundesregierung erhoben werden, wenn ein Patient ohne Überweisung den Facharzt aufsucht - zur Stärkung der Hausärzte und als Steuerungsinstrument gegen alle Ärztejunkies. Die CDU/CSU indes plante damals für jeden Medizinerkontakt eine Gebühr. Man einigte sich auf einen Kompromiss: Jeder gesetzlich Krankenversicherten ab 18 berappt einmal im Quartal zehn Euro - beim Arzt, Zahnarzt oder im Notdienst.
Anfänglich spülte die heiß umstrittene Zuzahlung 1,5 Milliarden Euro im Jahr in die Krankenkassen, zuletzt waren es knapp zwei Milliarden Euro. Von Anfang an galt die Steuerungswirkung als verfehlt. Es blieb bei durchschnittlich 18 Arztbesuchen pro Jahr und Mensch, eine im europäischen Vergleich hohe Zahl. Öfter zu Hause blieben nur Geringverdiener, Rentner und Studenten - eine fatale Fehlsteuerung, die durch die Verschleppung von Beschwerden später für höhere Ausgaben der Kassen sorgen würde, meinten Experten. Hinzu kamen Zeitaufwand und Kosten für das Kassieren der Gebühr in den Praxen, die FDP spricht von 360 Millionen Euro im Jahr. Auch die Kosten von Mahnbescheiden und Gerichtsverfahren gegen säumige Zahler tragen zur ökonomischen Negativbilanz bei. Zahlreiche Patienten sind von der Gebühr befreit, einige Kassen bieten Wahltarife ohne die verhasste Zuzahlung an. Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zahlen lediglich 28 Prozent der gesetzlich Versicherten überhaupt eine Praxisgebühr. All diese Probleme waren von Anfang an bekannt. Es gab Erfahrungen aus europäischen Nachbarländern und Untersuchungen, die alle vorgetragenen Befürchtungen untermauerten.
Gegen die Gebühr war konsequent von Anfang an die LINKE. Die FDP ließ sich von der CDU/CSU in ihrer Forderung nach einem Ende der Praxisgebühr in ihrer Mitregierungszeit so lange einschüchtern, bis sie mit ihrem Nein zum Betreuungsgeld endlich einen Joker im Spiel um Einführungen und Abschaffungen in die Hände bekam. Die SPD verteidigte das von ihr Mitbeschlossene gebetsmühlenartig gegen jede Kritik und sprang erst wieder auf den Abschaffungszug, als ihre Beteiligung an der Installation der Gebühr lange genug her war und auch in den Reihen der CDU und der CSU wieder Zweifel an diesem Instrument laut wurden. Lediglich Praxisgebührerfinder Horst Seehofer (CSU) poltert noch dagegen und forderte kurz vor dem Koalitionsgipfel »Ruhe an der Gesundheitsfront«.
Doch daraus wird wohl nichts werden. Skeptisch sind nicht nur Krankenkassen wie Barmer oder IKK, die den Koalitionsbeschluss für ein Wahlgeschenk halten und auch angesichts der Senkung der Steuerzuschüsse für den Gesundheitsfonds wieder einmal um die Nachhaltigkeit der Finanzierung des Gesundheitssystems bangen. Sie wollen einen Ausgleich der Mindereinnahmen aus dem Gesundheitsfonds. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt warnt ebenfalls vor einer Abschaffung der Praxisgebühr. Bereits 2006 hatte er vorgeschlagen, für jeden Arztbesuch fünf Euro zu kassieren.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.