Am Anfang war die Qassam-Rakete

  • Fabian Köhler
  • Lesedauer: 4 Min.
Eine irrationale islamistische Terrororganisation schießt ohne Anlass Raketen auf den jüdischen Staat. So lautet nicht nur das Narrativ der israelischen Armee über die jüngste Gewalt in Nahost, sondern auch die Berichterstattung vieler Medien. Zu Unrecht: Selten schreckte die Hamas vor einer Eskalation mehr zurück als heute. Eine Chronologie.

In einem seit Jahrzehnten andauernden Konflikt nach demjenigen zu suchen, der den ersten Schuss abgegeben hat, ist so sinn- wie endlos. Und dennoch geht die Ursachensuche vieler Medien oft nicht darüber hinaus. Fast immer ist es in diesen Darstellungen Israel, das auf die Provokationen der Hamas reagiert:

„Israel reagiert mit Luftangriff auf Raketenbeschuss",meldet z.B. Spiegel Online am 12. November und erklärt gleich zu Beginn noch einmal unmissverständlich:

„Erst flogen Raketen aus dem Gaza-Streifen auf israelisches Gebiet, die Armee wiederum reagierte mit Vergeltungsschlägen."
Doch so unsinnig dieser Erklärungsversuch generell ist, ist die Behauptung auch schlicht falsch:

Die letzte Feuerpause zwischen Israel und bewaffneten Gruppen im Gazastreifen begann am 29. Oktober. Sie endete am 4. November, als israelische Soldaten durch den Grenzzaun hindurch einen "unbewaffneten, geistig behinderten" Palästinenser erschossen.

Zwischen dem 5. und 8. November meldete die israelische Armee daraufhin den Einschlag einer palästinensischen Rakete in der Negev-Wüste.

Am 8. November rückten israelische Bodentruppen, begleitet von Hubschraubern, in den nördlichen Gazastreifen ein und erschossen einen 13-jährigen Jungen.

Am 9. November schossen Palästinenser zwei Raketen in Richtung Israel.

Am 10. November geschah der Angriff, den viele Medien als Beginn der jüngsten Eskalation auswählten. Palästinensische Kämpfer schossen auf einen israelische Militärjeep und verwundeten vier israelische Soldaten. Am selben Tag begann Israel seine bis heute andauernden Luftangriffe. Zwischen dem 10. und 13. November starben dabei mindestens sieben Palästinenser, darunter drei Kinder und zwei weitere Zivilisten.

Mit Beginn der israelischen Luftangriffe erhöhte sich am 10. November auch der Beschuss Israels durch palästinensische Milizen. Ca. 30 Raketen zählte die israelische Gruppe Qassam-Count an diesem Tag.

Doch schon am 11. November endete der Beschuss wieder, nachdem Hamas und Islamischer Jihad auf ägyptische Vermittlung Israel um einen Waffenstillstand ersuchten.

Auch am 12. November hielten die Bombardierungen Gazas durch die israelische Luftwaffe an. Palästinenser schossen zwei Raketen in Richtung Israel.

Am 13. November bekräftige Hamas' Premierminister Ismail Haniyeh das Waffenstillstandsangebot und sicherte das Einvernehmen aller bewaffneten Gruppen im Gazastreifen zu.

Israel reagierte mit der gezielten Tötung des Chefs von Hamas' Al-Qassam-Brigaden Ahmad Al-Jabaari am 14. November. Nach Berichten der israelischen Tageszeitung "Haaretz" war er nur Stunden zuvor an der Aushandlung eines Mechanismus für einen dauerhaften Waffenstillstand mit Israel beteiligt. Es folgten massive israelische Luftangriffe und eine massive Zunahme des palästinensischen Raketenbeschusses.

Eine detaillierte Analyse von Beginn und Ende israelisch-palästinensischen Waffenruhen hat Nancy Kanwisher für das Jahr 2008 erstellt. Ihr Ergebnis:
„… Hamas kann tatsächlich die Raketen kontrollieren, wenn es in ihrem Interesse ist. Die Daten zeigen, dass Waffenstillstände funktionieren können und die Gewalt auf einmal für Monate auf nahezu Null reduzieren."
Und:
„Es ist überwiegend Israel, nicht Palästina, das als erstes nach einer Waffenruhe tötet. Tatsächlich ist es nahezu immer Israel, das nach Waffenruhen, die länger als eine Woche dauern, zuerst tötet."
Mindestens 19 Palästinenser und 3 Israelis verloren in den vergangenen Tagen ihr Leben. Über die Ursachen lässt sich lang und kontrovers diskutieren. Doch sicher ist: Anlass der Gewalt war nicht der Abschuss palästinensischer Raketen.

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