»Hochverrat« auf der Anklagebank

Die Wuppertaler Gewerkschaftsprozesse - Opfer der NS-Terrorjustiz wurden jahrzehntelang nicht rehabilitiert

  • Rainer Funke
  • Lesedauer: 6 Min.
Etwa 1900 Festnahmen, Sippenhaft, Gerichtstermine in dichter Folge. Manchmal saßen 100 Frauen und Männer zugleich auf der Anklagebank. Der Naziterror gegen die Arbeiterschaft im Bergischen Land und die Wuppertaler Gewerkschaftsprozesse Ende 1935 werden jetzt in einem Buch des Historikers Stephan Stracke aufgearbeitet.

Die Analyse über das damalige Geschehen, über Täter und Opferschicksale, Hintergründe und internationale Solidarität erfährt im Café »Sybille« in der Berliner Karl-Marx-Allee eine besondere Weihe. Seit Jahren sind hier in einem »Antifa Jour fixe« der VVN/BdA Themen des Widerstandes gegen die Naziherrschaft zu Hause. In der Runde sitzen Nachkommen der Angeklagten, die um jene im Buch beschriebene schwierige Zeit teils aus kindlichem Erleben, teils aus Erzählungen wissen. Die Erinnerungen seien ihnen ein Leben lang gegenwärtig geblieben, so der Autor Stephan Stracke, Historiker von der Uni Wuppertal.

Stracke hat sich mit dem Wuppertaler Naziterror in seiner Dissertation befasst, deren gekürzte Fassung nun als Buch erschien. Wuppertal war in den 30ern eine 400 000-Einwohner-Stadt mit einer krisengebeutelten Textilindustrie. Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit lösten immer wieder Warnstreiks aus. Armut regierte seit Jahren. Der Antifaschist und Spanienkämpfer Walter Vesper merkte in Erinnerungen über das Leben in den Arbeitervierteln an: »In dem von uns benutzten fünfstöckigen Haus lebten zum Beispiel 107 Kinder … Am Ende der Straße befand sich eine Kippe, eine Insel, wo jeder Kehricht, Trödel, Tierkadaver, Abfälle der Krankenanstalten einen einzigartigen stinkenden Pfuhl bildeten. In schäbigen Schnaps- und Bierkneipen, in Kost- und Logierhäusern randalierten Männer, die am Lohntag schwankend nach Hause torkelten, das war das Niveau inmitten dieses übel riechenden Schmutzes.«

1934 hatte sich die soziale Lage noch zugespitzt. Die Nazis befürchteten Unruhen im Großraum Wuppertal, der traditionell zu den von der KPD stark beeinflussten Hochburgen der deutschen Arbeiterbewegung gehörte. Das Milieu militarisierte sich zusehends, auch der antifaschistische Widerstand. Der Kampf um die Straße wurde zur Hauptform der politischen Auseinandersetzung. In fast allen Stadtteilen hatte die SA Vereinsheime angesiedelt, aus denen Terrorakte in den Arbeitervierteln dirigiert wurden. Beinahe täglich gab es Zusammenstöße. KPD-Funktionäre mussten von einer bewaffneten Eskorte durch »Feindesland« nach Hause begleitet werden. In den ersten acht Monaten ermordeten die Nazis 18 Menschen auf offener Straße.

Nicht wenige Arbeiter holten Waffen aus Verstecken, die noch aus Zeiten des Ersten Weltkriegs, des Kapp-Putsches oder der Roten Ruhrarmee stammten. Nazi-Autokolonnen wurden aus Fenstern mit glühender Kohle und Blumentöpfen attackiert. Häufig kam es zu Schusswechseln. Einige SA-Aufzüge wurden durch Blockaden verhindert. Andere nicht, weil sie von Massen an Polizisten begleitet wurden, die »präventiv« auf die Hauswände feuerten. Mit neuer Taktik stießen antifaschistische Jugendliche am Straßenrand Naziparolen brüllende Anhänger in die SA-Reihen, was zu allerhand Tumulten führte.

Unterdessen war es Kommunisten, Sozialdemokraten, Parteilosen und Christen gelungen, 48 Widerstandsgruppen in Betrieben der Region aufzubauen. Es handelte sich angesichts der Gefahren um den Versuch - abseits der Auseinandersetzungen zwischen KPD und SPD auf allen Ebenen - , gleichberechtigte antifaschistische Strukturen aufzubauen. Die Widerstandsgruppen gaben eigene Zeitungen heraus, organisierten Kurzstreiks, mischten sich bei Auseinandersetzungen in den Fabriken ein. Der Historiker Stracke meint, dass mit diesen Betriebsgruppen im roten Wuppertal ein Muster für die damals angestrebte, aber immer umstritten gebliebene Volksfront gegen die faschistische Diktatur entstanden war. Auch aus heutiger Sicht handele es sich um einen wichtigen Abschnitt der Arbeiterbewegung. Insofern sei das Projekt von mehr als nur regionaler Bedeutung.

Mit einer Verhaftungswelle gelang es der SA, dem Sicherheitsdienst und der Gestapo, führende Köpfe und viele Mitglieder der Gewerkschaftsgruppen festzunehmen. In den Verhören schlug man sie mit Knüppeln, quälte sie mit Nadeln, versuchte sie mit Scheinhinrichtungen einzuschüchtern, drohte Frauen mit Vergewaltigung. Zwischen Januar 1935 und Dezember 1936 überlebten mindestens 17 Menschen die Vernehmungen nicht oder brachten sich in der Haft um.

Rund 1200 Festgenommene wurden während der Wuppertaler Gewerkschaftsprozesse angeklagt, 80 freigesprochen. Bei 400 stellte man das Verfahren noch in der Prozessvorbereitung ein. 649 Widerständler wurden »im Namen des Deutschen Volkes« wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« zu mehrjähriger Haft verurteilt. Viele starben an den Folgen der Folterungen, andere später in Konzentrationslagern oder unter dem Fallbeil, wie Ewald Funke, einer der Hauptakteure des Wuppertaler Widerstands. 120 Widerstandskämpfern gelang die Flucht ins Ausland. Die meisten von ihnen kämpften danach auf der republikanischen Seite im spanischen Bürgerkrieg oder in der Resistance. So Werner Waldeyer, dessen Sohn André im Café Sibylle aus dem bewegten Leben seines Vaters berichtete. Stracke machte auf die Solidarität aufmerksam, die um 1935 vor allem vom Wuppertal-Komitee in Amsterdam ausging. Diese Gruppe niederländischer Intellektueller verbreitete weltweit Einzelheiten über die Prozesslawine, sammelte Geld für die Familien der Angeklagten und schickte Delegationen zu den Gerichtsverhandlungen.

Bis in unsere Tage weigert sich von Amts wegen die Bundesrepublik Deutschland, wo auf dem Anger nahezu jeden Dorfes ein Kriegerdenkmal steht, Widerstandskämpfer aus der Arbeiterschaft zu ehren. Vor allem, wenn sie aus der kommunistischen Bewegung stammten. In Wuppertal etwa gibt es 4500 Baudenkmale, aber nur vier Straßen, die den Namen eines Antifaschisten aus der Stadt tragen. Mit Karl Ibach und Friedrich Senger gehören zu ihnen zwei namhafte Angeklagte aus den Gewerkschaftsprozessen. Und die Landespolitik gedenkt nur einmal im Jahr des Widerstandes, bis in die 90er Jahre allein der Hitler-Attentäter vom 20. Juli 1944.

Freilich entwickelte sich eine Gedenkkultur, die aber nahezu ausschließlich von einzelnen Bürgern, der VVN, dem »Verein zur Erforschung der sozialen Bewegungen im Wuppertal« sowie anderen Vereinen ausging - über weite Strecken von den Gewerkschaften unterstützt. Weshalb im Stadtbild auch ein Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus auf dem Sockel eines früheren Kaiserdenkmals zu sehen ist. Dazu ein Mahnmal für die jüdischen Opfer.

Wie schwierig der Umgang mit den Behörden ist, belegt eine Episode aus dem Jahr 2008: In der Gedenkstätte KZ Kemna sollte eine Treppe nach den in Konzentrationslagern ermordeten jüdischen Widerstandskämpfern Izchock und Rita Gerszt benannt werden. Auch sie waren bei den Gewerkschaftsprozessen verurteilt worden. Die Bezirksvertretung Elberfeld lehnte den Grünen-Antrag mit einer bemerkenswert absurden Begründung ab: »Der Bezirksbürgermeister teilt mit, dass nach Rücksprache mit dem zuständigen Sachbearbeiter dringend davon abgeraten werde, diese Benennung zu beschließen. So sei diese Familie nur eine von ca. 1200 ermordeten Familien in Wuppertal. Sich hiervon eine auszusuchen, sei nicht ratsam.«

Erst 2009, beinahe ein dreiviertel Jahrhundert nach Beginn der Gewerkschaftsprozesse, rang sich der Staat dazu durch, Nazi-Urteile wegen Vorbereitung zum Hochverrat aufzuheben. Und zwar jene, »die unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit nach dem 30. Januar 1933 zur Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen ergangen sind«. Still und leise scheint dieses Gesetz in Kraft getreten zu sein. Denn es blieb selbst bei den Nachkommen der Verurteilten weitgehend unbekannt.

Stephan Stracke: Die Wuppertaler Gewerkschaftsprozesse. Gewerkschaftlicher Widerstand und internationale Solidarität; Verlag De Noantri Bremen, 546 S., 29,80 €.

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