• Kultur
  • Bücher zum Verschenken

Wie ein Kind gerettet wird

Elena Chizhova führt in eine »Kommunalka« nach Leningrad

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 4 Min.

In Russland erschien der Roman der Petersburger Schriftstellerin Elena Chizhova unter dem Titel »Zeit der Frauen«. In »Mütterchen Russland« ist eigentlich immer Zeit der Frauen. Aber in manchen Zeiten ist die Macht der Frauen besonders gefordert gewesen. Davon erzählt die Autorin. Auch die Frauen in diesem Roman sind mutig und trotzig. Sie nehmen den Kampf mit der Tyrannei auf, und sie haben Erfolg! Es sind keine jungen, schrillen Popsängerinnen, sondern Babuschki, alte Frauen, die Revolution, Kriege, Stalin-Terror, Hungersnöte und unendlich viele Verluste erlebt haben. Geblieben sind ihnen ihre Erinnerungen und die Armut. Sie sind übriggeblieben. Überflüssig sind sie aber nicht. Jede der Frauen hat ihren eigenen Kopf, und jede ist in ihrer Art von großer Herzensgüte. Wärme und Stärke der alten Frauen überstrahlen Kälte, Frost und Trauer.

Wir befinden uns in Leningrad zu Beginn der sechziger Jahre in einer Gemeinschaftswohnung. »Kommunalka« - das ist auch so ein Schreckenswort, das bittere Armut und Enge assoziiert. In diesem Leningrad damals ist es eigentlich immer kalt. »Meine erste Erinnerung: Schnee ...«, so beginnt das Buch. Später einmal heißt es: »Wir blicken aus dem Fenster, und da schneit es tatsächlich, als wollte es gar nicht Frühling werden.«

Der Schnee hat etwas von Friedhofsruhe. Er liegt auf Straßen, auf Gräbern, auf Herzen. Früher haben die drei Frauen einmal zusammen in einem Krankenhaus gearbeitet, jetzt gehen sie nur noch selten hinaus, manchmal bis zur nahen Nikolski-Kathedrale. Was sollen sie auch in dieser vernebelten Stadt, wo am Kanal vor dem »schrecklichen Haus« »Ölgötzen, stumpfsinnige« stehen, an denen man so schnell wie möglich vorbeigeht?

Glikerija strickt, näht und weiß viele Märchen und Heiligenlegenden zu erzählen. Ariadna ist gebildet, sie spricht wie Glikerija ein altmodisches Französisch. Die Resoluteste ist Jewdokija. Einmal sagt sie zu Ariadna: »Bei dir ist Gott sei Dank alles in Ordnung, der Mann im Ersten Weltkrieg gestorben, der Sohn im Zweiten Weltkrieg, die Enkel und die Schwiegertochter während der Blockade. Wie bei normalen Leuten.« Jewdokija hatte auch einen Sohn gehabt, der war seit dem Bürgerkrieg bei den Bolschewiki gewesen, machte Karriere und wurde dann eines Tages zusammen mit der Schwiegertochter abgeholt.

In der Gemeinschaftswohnung bekommt die schwangere Fabrikarbeiterin Anto-nina ein Zimmer zugewiesen. Neuneinhalb Quadratmeter stehen ihr mit dem Kind zu. Als ihre Tochter geboren ist, entsteht unter den vier Frauen so etwas wie eine familiäre Gemeinschaft. Antonina arbeitet in der Fabrik, stellt sich nach Mehl und Kartoffeln an und kocht und wäscht für alle. Die alten Frauen kümmern sich liebevoll um das Kind.

Ungetrübtes Glück gibt es in dieser Zeit und in diesem Buch nicht. Die Kleine spricht nicht. Damit droht ihr, wenn sie ins Kindergartenalter kommt, die Einweisung in ein Heim. Ein Horrorgedanke. Da setzen die Großmütter alles daran, ihre Sofja zu retten. Sie verstecken sie und übernehmen selbst die Bildung des Kindes. Ein Fernseher muss her, und eines Tages arrangieren sie sogar eine Hochzeit.

Dieses Buch enthält mehr Atmosphärisches als Handlung. Wenn aber etwas geschieht oder ein bisschen Glück aufscheint, dann endet es meist traurig. Dank der Babuschki wird Sofja jedoch selbstständig werden und später das Malen zu ihrem Beruf machen. Die Erinnerung an ihre Mutter wird dann nur noch die an einen Sarg sein - und an - Schnee. Was aber wird aus den Babuschki in diesem traurigen Märchen? Wenn sie nicht gestorben sind ... Sie sind nicht gestorben, sagt die Erzählerin am Ende, »sie sind einfach gegangen«. Aber vorher haben sie ein Menschenleben gerettet. Übrigens gibt es in diesem Roman nur wenig Männer, den Vorarbeiter Nikolai, »kein schlechter Mensch, aber schwach«, und den alten, hilfsbereiten Arzt Solomon. Die Frauen wissen alle beide für ihre Rettungsaktion einzuspannen.

Elena Chizhova: Die stille Macht der Frauen. Roman. A. d. Russ. v. Dorothea Trottenberg. Deutscher Taschenbuch Verlag. 278 S., geb., 14,90 €

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.