Neue Lyrik, neues Säuseln
»Reglose Jagd« ist ein starkes Gedicht. Es verfügt über Bild und Klang, sogar über Aussage, was längst nicht mehr Kriterium des Künstlerischen ist; vor allem aber erliest sich eine berückende Metaphorik: … Nur die Seeadler auf den Pfosten / lassen mich nicht aus dem Blick, ich fühle / ihre gefeilten Augen mir in den Nacken starren … - Man ist getroffen vom scharfen Blick der Adler. Erlebnisse mit dem ganz Anderen werden vermittelt, etwas, das längst nicht mehr Bedingung für Lyrik ist, der als »urbaner Literatur« das Protokoll bloßen Befindens ausreicht. Mit Nora Bossong befindet sich der Leser an der Grenze zur fremd gewordenen Natur, dem neuerlich Unheimlichen, und sieht sich erstaunt um.
Von vergleichbarer Wirkung ist auch das Gedicht »Standort« der Autorin: Wesentlich ist hier wiederum die Statik, eine ptolemäisch anmutende Welt, wenngleich gegenwärtig und modern, herausgehalten aus dem Panta-Rhei des biografischen und geschichtlichen Geschehens. Nole me tangere! - Rühre mich nicht an! - So abstinent und fern, dass Unterströmungen verborgen bleiben, die gefährlichen wie die verheißungsvollen. Hohe Empfindsamkeit!
Was aber liest der Leser mehr als den infantilen Hilferuf: Schaut, wir sind so allein und verlassen in einer uns unverständlichen Welt! Wir kennen weder Ort noch Richtung. Wer bloß holt uns hier ab? - Das ist die lyrische Verneinung des beredten Titels »Standort«. Genau der ist verloren gegangen, und mit ihm die Orientierung, so wie alles Weltwissen, obwohl mit dem Smartphone sogleich zur Hand, gar nichts mehr nützt! Das Ich steht vor der Karte einer Metropole, in der es lebt, aber es fehlt darin der Pfeil mit der rettenden Auskunft: Sie sind hier!
Die Welt mag noch irgendwo sein, wind- und regenverhangen, jenseits der schützenden schneebedeckten Eingeeistheit, oder sie ist bereits verschwunden, weil sich doch etwas tut. Das Unheimliche da draußen. Man weiß nicht so genau. Denn was sich sichtbar bewegt, sind nur die unklaren Schleier von Grau. Wesentlich ist die Reglosigkeit, intellektuell wie physisch. Lähmung und Depression. Die Welt haben die anderen eingerichtet. Das junge lyrische Ich kommt darin nicht vom Fleck und fürchtet sich vor den engen Kulissen ebenso wie vor der Selbstbefreiung, weil die noch mehr Unwägbarkeiten auslöste als die Tristesse des Vertrauten.
Ob der Autorin eher an dem Reiz des Adagios ihrer Gedanken liegt oder ob man darin den unbewussten Ausdruck einer Epoche vermuten darf, in der zwar technisch eine Menge und vor allem Bedrohliches, aber ideell eher wenig und eher Belangloses geschieht, sei dahingestellt. Ein Zug Biedermeier ist der neuen Lyrik nicht fremd: Weltabständigkeit, Rauschen der entrückten Natur, viel Erste Person als Kennzeichen des vereinzelten Einzelnen, das Wir nur Pronomen einer schutzsuchenden Gemeinschaft von Empfindsamen.
Selbst ein Lieblingsbegriff der Szene, die »Urbanität«, passt zur angstvollen Verranntheit im Labyrinth der Städte und der Verlorenheit in den über sie gesponnenen elektronischen Netzen. Dort, wo unmittelbar alles möglich scheint, fehlen Ausrichtung und Sinn. Weltverlust, kleine, enge Radien, Innenschau, distanzierte Signale über Verdrahtungen hinweg, diffuse Gefühlsbotschaften, schwer auszudrückende Notstände - digitalisiert in »sozialen Netzwerken«, wo alles gleich untergeht: Flaschenpostsendungen, nie aufgefischt. Tastatur statt Begegnung. Im Flirren der Reizüberflutung bleibt das verzagte Ich einziger Fixpunkt, echter Leidenschaftlichkeit entbehrend, zerrissen zwischen Allmachtswahn und Versagenskomplex, zwischen Narzissmus und Verklemmtheit, Manie und Depression.
Aber darf man Nora Bossong nicht das Kompliment machen, ihre Lyrik offenbare gar eine Verwandtschaft zu Peter Huchel, etwa zu seinem Gedicht »Schnee«: Die blauen Schatten /der Füchse lauern / im Hinterhalt. Sie wittern / /die weiße/ Kehle der Einsamkeit. - Was verwandt klingt, schaut aus ganz anderer Perspektive: Huchel sitzt fest, ist observiert, seine Post konfisziert, er hat Angst vor einer benennbaren Bedrohung. Seine Reglosigkeit in Einsamkeit ist keine selbst auferlegte, sondern eine erzwungene. Nein, gerade kein hingetüpfelter Impressionismus, sondern echte Verzweiflung. Nicht der Anfang, sondern das Ende aller Sentimentalität, echter Frost, jener der Kühlrippen des Kalten Krieges
Mit Novalis gedacht, allerdings reziprok: Ließe sich über die Stagnation ästhetischer Reglosigkeit und das Einfärben von Oberflächen hinaus poetisieren, was sich der Literatur zu verweigern scheint, ihr aber neue Vitalität verliehe? Es muss möglich sein, denn sonst überlässt das Bewusstsein virulente Themen der Politik und Journaille. Also der Phrase. Wo liest man einen packenden Ausdruck. Offenbar hat die famose Wende von 1989 der Lyrik die Sprache verschlagen. »Wind of Change« als letztes Lied?
Was sollte literarisch noch möglich sein, da nach Jahrzehnten des Kalten Krieges der große Frieden ausgerufen wurde und sich die westliche Welt im Reich der Freiheit angekommen wähnte, wo sie nichts mehr anficht?
Das Theater, das die Fährnisse der bipolaren Welt aufgeführt hatte, war plötzlich aus, der Vorhang gefallen. Ausgegruselt. Was von der Aufklärung, dieser nachchristlichen Selbstvergewisserung, noch übrig war, begann mit der Wiederbelebung ihrer Illusionen: Endlich hatte der Mensch dank der Didaktik des Geschichtlichen gelernt! Das Böse als das ganz Andere, das - mit Kant - vernünftig gar nicht zu denken ist, schien unterlegen. Folgerichtig! Die Welt ein besserer Ort, ohne Nachtseite, Faust als Sieger über Mephistopheles, Ende der Geschichte: Big Party! Big Business! Big Fun!
Waren die Ideologien noch Platzhalter religiöser Heilsbotschaften, so lösten sie sich auf in der einen Verheißung, dem barrierefreien Hedonismus für die beglückte Welt. Kommerzialisierung und radikale Vermarktwirtschaftlichung, New Economy, Wachstumsfantasien, Bilderflut in HDD, Vernetzung von allem mit jedem, Getwitter der Nichtigkeiten. Die ökonomische Globalisierung, von der alles nivellierenden, alles gleichschaltenden Wirtschaft propagiert als umarmende Völkerverständigung. Seit dreißig Jahren Restaurationszeit in edel kühlem Design, einhergehend mit der Degeneration des Citoyens zum Konsumenten und Kleinaktionär.
Die Lyrik zog sich zurück. Das kann sie am besten. Ihre Formspezifik scheint das Protokollieren des Individuellsten, Nebensächlichsten, Belanglosesten nicht nur zu legitimieren, sondern zu verlangen. Die aktuelle Lyrik vermittelt so etwas wie das Blinzeln der Berliner Besserverdiener-Intellektualität in der Sonne am Prenzlauer Berg, wo früher mal echte Dichter wohnten. Als Dichtung gelten heute schon Gedankensekretion und Poetry-Slam, also Sprechgesang dahergeredeter Prosa, und die introvertierte Weinerlichkeit all der klitzekleinen Betroffenheiten.
Sollte man auf die Krise hoffen dürfen? Wider die Reglosigkeit! Man sage sich Jakob van Hoddis' Gedicht »Weltende« auf und wird darin eine Stimmung finden, die verblüffend genau zu Verhandlungen über eurofinanzielle Rettungsschirme passt.
Weshalb nicht Mut zu einem neuen Expressionismus, wenn der moderne Impressionismus ganze Jahrzehnte zum Aquarellieren seiner Empfindungen hatte? Zu viel Schwachstrom. Keine Lichtbögen. Man sollte mal wieder in den Maschinenraum hinab und sich neu auf den Menschen einlassen, ohne dass dabei bloß die schnelle Pointe, der Like-Button, das flotte Bonmot von Belang sind. Keinen Small-Talk mehr. Nein, es ist gerade nicht wahnsinnig spannend, ungeheuer interessant und total witzig, es ist stinklangweilig geworden, so sehr, dass schon die dritte Generation stumpf gechillt verdämmert oder hyperkinetisch abdreht.
Spürt man dem nach, was den Menschen immer antrieb, gefährdete, verletzte, seiner Sehnsucht, ja meinetwegen Liebe, seiner Gier, seiner Schuld, seiner Scham und Peinlichkeit, seinem Hass und seinem Mitleid, seiner Verlorenheit und dem ihn beherrschenden Fluch, mit dem nächsten Verbessern der Welt gleich noch größeren Schaden anzurichten und tatsächlich nirgendwo eine feste Statt zu haben, aber doch immer wieder auf der Erde und im Leben Fuß zu fassen, wenn man dies alles wieder schonungslos, aber nicht kaltherzig ansieht, dann ist man beim Thema.
»Dreißig Jahre Marktradikalität und der totalitäre Pragmatismus der Saldi bildeten überbaulich eine Kultur der Farce, des Euphemismus und der zynischen Billig-Bonmots aus. Im Dauerentertainment hat die Lyrik, hat überhaupt die Literatur wenig zu sagen. Wirtschaftliche Zwänge einerseits und die kunterbunte Medienwelt andererseits scheinen ihr den Artikulationsraum zu verengen. Kunst und Literatur ordnen sich in die Warenregale ein und folgen den Bedürfnissen und Gestimmtheiten des Publikums. Was früheren Zeitaltern als trivial gegolten hätte, geht mittlerweile als Hochkultur durch.
Im subkulturellen Raum grübeln hochintrovertierte Schreiber und Leser - eine Szene, die sich in Foren und Mini-Verlagen selbst reproduziert und nur dort wirken möchte. Als l'art pour l'art zu blässlich, dennoch gesellschaftlich abstinent. Ausdruck als individualisierte Gestaltung hinter Glas.
Aber dank der Krise, die nicht zuletzt eine ideelle ist, gärt etwas, was Bewegung werden will. Dies könnte wiederum die Stunde der Lyrik sein: Sie ist operativ, nicht nur im Politischen.«
Martin Mollnitz
Standort
Wir leben in einer Stadt ohne Fluß, es gibt Grenzen hier nur aus Wind oder Regenschauern. Meine Schwester ängstigt das nachts, doch es läßt sich in unserem Haus nicht weinen, vielleicht hülfe es ihr, vielleicht brächte es sie um den Verstand. Es ist frostig in ihrer Stimme. Ließen sich Entfernungen ohne Fluß beschreiben, wären zum Wenigsten die Ahnungen haltbar: Niemand nähert sich unserem Haus und die Eltern haben wir lange nicht gesehen. Doch es gibt keinen Halt, diese Stadt ist wie ein Schneenest im März. Nur der Wind, der den Regen in seine Form treibt, deutet ein Ortsende an. Unser Haus bleibt von Eis bedeckt und verschwunden.
Nora Bossong
Reglose Jagd
Die Ställe hangabwärts, es heißt, den Hasen habe ein Marder geholt, ein Fuchs, niemand ist sicher, man lebt hier selten des Nachts. Das Haus zu groß für ein Haus, die Menschen zu reich, nicht aus meiner Zeit. Dennoch gehen wir auf die Jagd gemeinsam, durch die verwachsenen Ränder des Familienerbes, kein Tier knackt das Unterholz, kein Kadaver legt seinen Geruch wie eine spukende Ahne an die Grenze des Grundstücks. Ich glaube, alles hält die Terrasse verborgen, niemand folgt mir nach, wie sollten sie auch, meine Tage liegen anderswo. Nur die Seeadler auf den Pfosten lassen mich nicht aus dem Blick, ich fühle ihre gefeilten Augen mir in den Nacken starren, bis ich stürze, doch das ist unwesentlich, nur eine kurzfristige Veränderung des alten Gebäudes.
Nora Bossong
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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