Das stille Vordringen des Alltäglichen
Der Soziologe Asef Bayat hat eines der lesenswertesten Bücher über die Protestbewegungen im Nahen Osten verfasst
Als sich der junge tunesische Händler Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 aus Protest gegen die autoritäre Obrigkeit selbst anzündete, konnte niemand absehen, dass sich innerhalb kurzer Zeit eine ganze Welle von Aufständen im Nahen Osten ereignen würde. Einen Monat brauchten die Tunesier, um Präsident Ben Ali aus dem Amt zu jagen, achtzehn Tage die Ägypter, um Mubarak zu stürzen. Woher kam dieser plötzliche Ausbruch politischer Handlungsmacht, die ohne erkennbare Organisation und Führung die gesellschaftlichen Verhältnisse in mehreren autoritär geführten Ländern ins Wanken brachte? Dieser Frage geht der Soziologe Asef Bayat in seinem Buch »Leben als Politik - wie ganz normale Leute den Nahen Osten verändern« nach. Darin schlüsselt er die sozialen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen auf, die den revolutionären Erhebungen vorangingen.
Der 1954 geborene Bayat erlebte als junger Mann die iranische Revolution, ging ins Exil, lehrte lange an der Universität Kairo und arbeitet derzeit an der Uni von Illinois. Von den zahlreich erschienenen Büchern über die Protestbewegungen in der arabischen Welt ist Bayats Beitrag einer der lesenswertesten. Er verbindet Zeitgeschichte mit praxisorientierter soziologischer Theorie und wirft einen differenzierten Blick auf den Nahen Osten.
Als grundlegend für die revolutionären Veränderungen im Nahen Osten sieht er die sozialen Konsequenzen des Neoliberalismus. In den späten 2000er Jahren gibt es in der arabischen Welt eine massive Zunahme dessen, was Bayat als die »Armen der Mittelschicht« bezeichnet. Die ökonomische Liberalisierung infolge der Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank führte dazu, dass eine große Anzahl gut ausgebildeter Menschen in prekarisierten Verhältnissen lebt. Diese Verlierer der neoliberalen Entwicklung, die sich nur mit Hilfe informeller Ökonomien über Wasser halten können und immer häufiger in Slums wohnen, spielten laut Bayat eine Schlüsselrolle bei den Aufständen.
Um ihr Auskommen zu organisieren, überschreiten diese neuen Armen fortwährend Grenzen der Legalität. So betreiben sie illegal Straßenhandel - mit Produkten, die außerdem den Markenschutz unterlaufen. 600 000 illegale Straßenhändler soll es derzeit in Kairo geben, 150 000 in Teheran. Das Anzapfen von Stromleitungen gehört ebenso zum Repertoire dieser illegalen Praktiken wie die Besetzung urbaner Brachen, um dort Siedlungen zu errichten. Den Menschen gelingt es dabei immer wieder, dem Staat Zugeständnisse abzutrotzen. So wurden Ende der 90er Jahre von 81 illegalen Siedlungen in Kairo zwar 13 geräumt, für alle anderen gab es aber Sanierungsprogramme.
Asef Bayat bezeichnet das als »stilles Vordringen des Alltäglichen«. Nicht politischer Protest, sondern die Durchsetzung sozialer Praktiken steht hier im Vordergrund. Die Akteure sind nicht organisiert, aber durch eine gemeinsame Lebensweise verbunden. Das gilt auch für Jugendbewegungen, die mit Hilfe geächteter Musik rebellieren. So waren Anhänger von Heavy Metal in Ägypten einer harten Repression ausgesetzt, während es in Kairo gleichzeitig zahlreiche Untergrundkonzerte gab.
Auch Frauen widersetzen sich den rigiden patriarchalischen Regeln, indem sie sich zum Beispiel in Iran frei in der Öffentlichkeit bewegen und Sport treiben oder beruflich aktiv sind. Diese schwer fassbaren Kommunikationsstrukturen von Menschen, die unausgesprochen einander erkennen, nennt Bayat »passive Netzwerke«, die aber - sobald sie die Staatlichkeit herausfordern und unter Druck geraten - aktiv werden. Da es sich dabei nicht um soziale oder politische Bewegungen im klassischen Sinn handelt, wie hierzulande bei Anti-Atom-Protesten oder politischen Bündnissen gegen die EU-Krisenpolitik, bezeichnet sie Bayat als »Nicht-Bewegungen«.
Die Unfähigkeit der autoritären Regime im Nahen Osten, auf derartige Phänomene zu reagieren - anders als in Europa oder in den USA, wo illegale Besetzungen oder Warenpiraterie massiv bekämpft werden - führte zu einer breiten Etablierung derartiger »Nicht-Bewegungen«. Die digitalen Medien ermöglichen es solchen Netzwerken, schnell und kostengünstig zu mobilisieren - auch zu einem Protestereignis wie etwa im April 2008, als sich 60 000 Menschen in Ägypten mit streikenden Textilarbeiterinnen solidarisierten und auf die Straße gingen.
Bayat konstatiert, dass die drei großen gesellschaftspolitischen Ideologien im Nahen Osten - antikolonialer Nationalismus, Marxismus-Leninismus und Islamismus - in finalen Krisen stecken. Vielmehr wird im Wunsch nach Demokratie eine Tendenz manifest, die sich politisch im Postislamismus ausdrückt, der Religion, eine Öffnung dem Westen gegenüber sowie demokratische Werte miteinander zu verbinden sucht. Insofern sind für Bayat die politischen Erdrutsche im Nahen Osten und in der arabischen Welt »Refo-lutionen« - also Umwälzungen, die mit revolutionären Prozessen beginnen, aber dann in politischen Reformprozessen und letztlich in mehr oder weniger freien Wahlen münden.
Besonderes Augenmerk legt der Soziologe auf die Stadt als Raum, in dem sich politische Proteste und soziale Praktiken entwickeln, überlagern und ständig verändern. Nicht zuletzt die Verstädterung des Nahen Ostens ist für ihn ein Grund für die jüngsten Entwicklungen. Die »arabische Straße«, die in der westlichen Presse mit orientalistischen Vorurteilen als Ort des chaotisch agierenden Mobs beschrieben wird, hält er für den zentralen Ort, an dem sich diese neuen selbstorganisierten basisdemokratischen Proteste ausbreiten können. Die Analysen des neoliberalen Stadtraums gehen dabei trotz ihres eindeutigen Nahost-Bezugs über den regionalen Fokus hinaus und liefern einen weitergehenden Blick auf die »Recht-auf-Stadt«-Thematik, die auch hierzulande immer mehr in den Mittelpunkt politischer Debatten rückt.
Asef Bayat: Leben als Politik - wie ganz normale Leute den Nahen Osten verändern, Assoziation A, 256 Seiten, 18 Euro.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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