Die Sinne der Frau
»Anna Karenina« von Joe Wright
Was hat Tolstoi eigentlich von dieser Frau gehalten? Schwer zu sagen, jeder, der die »Kreuzersonate« gelesen hat, weiß, dass Tolstoi nichts so verabscheute wie menschliche Triebhaftigkeit, die über den Verstand triumphiert, die schließlich den ganzen Menschen ins Verderben stürzt.
Dennoch widmet er ihr ein Buch, ein tragisches zumal, in dem Anna Karenina nicht allein als ein Sünderin dasteht, auch nicht als eine bloß Verführte oder Ehebrecherin, sondern auch als eine Liebende. Dennoch, für den Ehebruch muss sie büßen, am Ende wirft sie sich vor einen Zug. Ein sinnbildlicher Bogen, denn die Eisenbahn war es auch gewesen, der sie von Petersburg nach Moskau gebracht hatte, zusammen mit der Gräfin Wronski, deren Sohn sie vom Bahnhof abholt. Der Offizier Wronski, ein Pferde- und Frauennarr, törichter geht es kaum - dennoch, es wird uns als Liebe auf den ersten Blick dargeboten.
Ich wage zu behaupten, dass sich Tolstoi recht wenig für die Gefühle seiner Hauptheldin interessiert, der er immer mit einer gewissen Distanziertheit begegnet. Er verurteilt sie nicht, aber ebenso wenig verteidigt er sie. Das macht die Geschichte durchaus modern, die kühle Distanz, die darin liegt, schafft Spielräume. Tolstoi will etwas anderes zeigen als den Untergang einer Frau, die sich in einen anderen Mann verliebt und aus ihrer Ehe davonläuft: ein Tableau der russischen Gesellschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, eine Gesellschaft im Umbruch. Noch ist die Ehe die einzige Form, die einer Frau Sicherheit und Ansehen bietet. Doch das schicksalhafte Bild der Lokomotive am Anfang und am Ende zeigt, wohin die Reise geht. Auch der russische Adel, die alten Eliten stehen vor der Auflösung - und Anna Kareninas Flucht aus ihrer lieblosen Ehe ist dafür nur ein Indiz mehr.
Jede neue Verfilmung von »Anna Karenina« lässt dennoch dieselbe Frage wieder stellen: Ist diese Frau einfach nur untreu, ein haltloses Weib, das ihren Mann (und ihr Kind!) eines Offiziers wegen verlässt, dem sein schlechter Ruf voran eilt? Das Weib ist seinem Wesen nach entweder Heilige oder Hure? Tolstoi, der sich mit einer neuen Form von Religion beschäftigte, waren solche Überlegungen keinesfalls fremd. Trotzdem ist er Künstler genug, die Position Anna Kareninas so stark wie möglich zu zeichnen. Wie sieht das Milieu aus, in dem sie sich bewegt, was ist das für ein Ehemann, an dessen Seite sie lebt? Die Antworten fallen eher negativ aus: Die Adelsgesellschaft ist von einer Doppelmoral beherrscht, ihrem Ehemann geht sein Ruf über alles. Das sind sämtlich äußerliche Dinge, nur Schein. Was aber ist mit der Wahrheit?
Greta Garbo war bereits 1935 eine Anna Karenina, die ihren Weg geht, genauso, wie sie sich entschieden hat. Sehr eindrucksvoll, sehr emanzipiert und trotzdem geheimnisvoll. Es scheint, als probte sie hier schon die Rolle der Sowjetkommissarin in Ernst Lubitschs »Ninotschka«, die aus Moskau nach Paris kommend, die Liebe lernt. Aber ganz und gar nicht sentimental, sondern wie auf Expedition in bislang unbekanntes Gebiet. Vivien Leigh, die zuvor in »Vom Winde verweht« zur Legende wurde, scheitert dagegen kläglich an dieser Rolle, macht sie zur mechanischen Salonpuppe. Auch Tatjana Samoilowa in Alexander Sarchis Mosfilm-Produktion von 1967 kann nicht mehr denselben Zauber wie in »Wenn die Kraniche ziehen« entfalten, obwohl Sarchis Film auch beim Wiedersehen fasziniert durch die Art, wie er die Geschichte erzählt: Schnitt und Musik eröffnen eine Bilderwelt, die genau jene präzisen Blicke in die Abgründe einer Gesellschaft werfen, die nach außen doch vorgibt, noch intakt zu sein.
Und nun also unternimmt Joe Wright (»Stolz und Vorurteil«) den ungefähr zehnten Verfilmungsversuch. Keira Knightley ist Anna Karenina, Jude Law ihr Ehemann, der Staatsbeamte Karenin und Aaron Taylor-Johnson der Kavallerie-Offizier Wronski. Wright umgeht die Falle, eine Dreiecksgeschichte erzählen zu wollen, er weiß, er kann in dieser Angelegenheit überhaupt nichts Neues mehr bieten. Darum forciert er in kluger Weise die Künstlichkeit der Erzählung, vergrößert Abstände, will nicht etwa vergessen machen, dass er nicht der erste ist, der sich Anna Karenina widmet, sondern stellt es bewusst aus.
Das bekommt dann den Charakter eines Films im Film. Das Publikum sieht sich selbst zu, wie hier das Erfolgsstück »Anna Karenia« gegeben wird, Tempowechsel werden ebenso möglich wie der Wechsel zwischen Innen- und Außenperspektive. Ist das Ganze hier vielleicht nur eine Operette, die man nicht so ernst nehmen sollte? Vielleicht, jedenfalls sind die Blickwinkel, aus denen Wright Anna Kareninas unheilvollen Weg erzählt, jederzeit überraschend und wirken gar nicht angestaubt.
Doch seltsam, ebenso wie in den anderen Verfilmungen, vielleicht mit Ausnahme jener mit der kühl-kontrollierten Greta Garbo als Anna Karenina, bleibt auch Keira Knightley hinter den in sie gesetzten Erwartungen zurück. Was beherrscht diese Frau? Eine Liebe, die für Außenstehende nicht aufschließbar ist? Oder bloßer Trieb? Dagegen gibt Jude Law dem betrogenen Staatsrat Karenin eine Überlegenheit und menschliche Größe, die die Konstruktion der Geschichte fast zunichte macht.
Vielleicht liegt es ja auch daran, dass es schwer ist, Ehe brechende Frauen wirklich überzeugend zu spielen, wenn sich diese dabei doch immer wie Ehefrauen benehmen? Oder resultiert das Missbehagen aus die Tatsache, dass sie an Wronski, diesem offensichtlichen Don Juan, klebt, der eine viel geringere Persönlichkeit ist als Karenin? Und war dieser Effekt von Tolstoi am Ende gar gewollt? Eine emanzipierte Frau wird aus Anna Karenina jedenfalls nicht. Sie bleibt eine Verstoßene, ein Opfer, entweder der Männerwelt oder ihrer selbst, darüber darf man streiten.
Wie anders hatte dagegen Fontane seine Effi Briest gezeichnet, die sich aus einer allzu engen provinziellen Lebenssituation, aus falscher Ehe befreite und allein zu stehen vermochte (vor allem ihr reales Vorbild, das noch lange weiterlebte, nachdem Effi im Roman längst gestorben war). Aber so viel Alice Schwarzer war dann doch nicht im Sinne von Lew Tolstoi, Joe Wright hat das schon ganz richtig erkannt.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.