Wer spricht schon noch vom Krieg?

Das Trauma der Kindheit begleitet Brunhilde Knieps bis heute - und wirkt auch auf ihre Kinder

  • Anke Engelmann
  • Lesedauer: 7 Min.
Brunhilde Knieps: »Ich will nicht ins Heim.«
Brunhilde Knieps: »Ich will nicht ins Heim.«

Die Torte ist vielleicht ein bisschen zu gehaltvoll, auch Brätel und Würste gibt es reichlich, dazu Kartoffelsalat und Getränke. Alle fünf Kinder sind gekommen, die Enkelinnen und Schwiegertöchter sitzen am Tisch, unter dem der Hund Lucky hockt und geduldig wartet, bis auch für ihn etwas abfällt. Geburtstag bei Familie Knieps. Brunhilde, 76 Jahre alt, hat den Ehrenplatz an der Stirnseite. Immer ist jemand bei ihr, wischt ihr nach dem Essen den Mund ab und die Finger und manchmal Essensreste vom Pullover. Sorgt dafür, dass sie genug zu trinken hat und ihren Blutzucker misst. Dabei redet und scherzt die Familie miteinander, und wer neu ankommt, wird umarmt und zu Torte oder Bratwurst genötigt.

Ihre Kinder haben die kräftige Statur und den Brunhilde-Kopf geerbt: niedriger Haaransatz, Knubbelnase und ein dicker Schädel, der in keine Mütze passt. Den brauchten sie auch, jeder einzelne von ihnen. Sie sind einfache Leute, Reinigungskräfte, Verkäuferinnen, Arbeiter, Tischler. Sie sind herzlich, hilfsbereit, lachen gern und sind manchmal ein bisschen derb. Und sie machen nicht viel Aufhebens von sich.

Brunhilde liebt Torte und Würste und Kartoffelsalat, aber sie darf nicht mehr oft genießen: Zuckerkrank ist sie, hat nur noch eine Niere, zudem hört und sieht sie kaum etwas. Zu viel musste ihr Körper erdulden: Seit 67 Jahren lebt sie mit einer Beinprothese, die bis zur Hüfte reicht. Wegen Diabetes wurde ihr kürzlich das zweite Bein unterhalb des Kniegelenkes amputiert. Wo sie ihr erstes Bein verloren hat? Im Krieg, hätte sie gesagt, wenn im Krankenhaus jemand gefragt hätte. Aber niemand hat gefragt. Der Krieg ist weit weg, so scheint es. Die letzten, die ihn erlebt haben, sind heute mindestens 67 Jahre alt - unsere Eltern, Groß-, und Urgroßeltern.

14 Millionen Menschen erblickten zwischen 1930 und 1945 in Deutschland das Licht der Welt. Niemand weiß, wie viele von ihnen in ihren ersten Lebensjahren Schlimmes erfahren mussten. Kinder spüren nicht viel, glaubte man lange. Heute weiß man es besser: 14 von 100 Kriegskindern litten unmittelbar nach dem Krieg an posttraumatischen Belastungsstörungen, also psychischen Erkrankungen nach Ereignissen von außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalem Ausmaß. Zehn zeigen bis heute schwere posttraumatische Symptome, so eine Studie, die 2006 die Forschungsgruppe »Kriegskindheit« der Universitäten München und Greifswald mit 100 Teilnehmern durchführte. Dass sie traumatisiert sind, ist vielen Kriegskindern nicht einmal bewusst. Das war eben so. Darüber sprach man nicht.

*

Was ist Krieg? Brunhildes Erinnerungen gleichen Anekdoten: Wie ihre Mutter die Nazi-Fahne zum Toilettenfenster raushing, als Hitler in Erfurt war. Wie die Nachbarin ein jüdisches Mädchen versteckte, und wie das Kind nach Denunziationen entdeckt und »geholt«, also ins Konzentrationslager gebracht wurde. Wie die Lehrerin Frankenknecht, die »Nazihexe«, die Schüler mit ausgestrecktem Arm auf dem Schulhof ausharren ließ und ihnen, wenn sie müde wurden, mit dem Zeichenstock auf den Arm schlug. Wie die Kinder vor den Luftangriffen in den Bunker flüchteten, wo sie manchmal tagelang ausharren mussten.

Verschüttet, verkrüppelt, verwaist - das ist Brunhildes Geschichte. Die Bombenflugzeuge kamen am frühen Nachmittag des 9. Februar 1945. Brunhilde war acht Jahre alt. Marsch, marsch, in den Bunker! Sie sitzen hinten bei den Toiletten, wo es angeblich am sichersten ist. Die Mutter neben ihr, die Tante mit der kleinen Schwester auf dem Arm. Dann ein Schlag. Schutt. Staub, Steine, Eisenstangen kreuz und quer. Ihr Bruder bis zum Hals im Geröll. Die Tante, die leise jammert und sich hin und her wiegt. Auf ihrem Schoß die kleine Ilse. Lunge geplatzt.

Brunhilde lag auf ihrer Mutter und spürte, dass die tot war. Sie selbst überlebte schwer verletzt. Ein Jahr lang war das Mädchen im Krankenhaus, überstand dort Bombardierungen und die Wirren des Kriegsendes und verlor das linke Bein. Lebte dann bei ihrem Vater, der aus der Gefangenschaft gekommen war und sich wenig einfühlsam zeigte. Sie schlugen sich durch, züchteten Kaninchen, eine Ziege, die ältere Schwester ging plündern, wie alle damals. Gleich nebenan, in der gekrümmten Straße am Flutgraben, die bei Alt-Erfurtern heute noch der »Kochlöffel« heißt, stand unversehrt das Haus, in dem Brunhilde groß geworden war und mit ihrer Mutter und den Geschwistern gelebt hatte. Ständig kam Brunhilde daran vorbei. Ständig musste sie an ihre Mutter denken.

Einmal machte sich Brunhilde auf zu deren Grab. Sie muss sehr einsam gewesen sein, doch ihre Erzählung beginnt sie mit einem Erfolgserlebnis: »Als Kind bin ich sogar einmal Fahrrad gefahren«, sagt sie strahlend. »Obwohl ich nur ein Bein hatte!« Ein Friedhofswärter fand sie auf der Anlage für die Opfer der Bombenangriffe. Er hob sie auf sein Rad und brachte sie nach Hause. »Damals war ich noch stark und schnell wie der Blitz«, sagt Brunhilde stolz. Wehe, wenn jemand sie verspottete!

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Später wurden ihre Kinder ihr Lebensinhalt. Kein Beruf, wenig Geld, und auch in der Liebe hatte sie kein Glück. Brunhilde verliebte sich in einen Mann, der sie nach 16 Jahren mit den fünf Kindern allein ließ. Schneiderin wollte sie werden, doch das hat nicht geklappt. So arbeitete sie in einer Fabrik, und als die Kinder klein waren, verdiente sie mit Heimarbeit für das Optima-Büromaschinenwerk ein paar Pfennige dazu. Das Geld reichte hinten und vorne nicht, trotz Kindergeld und Invalidenrente. Der Mann brachte alles durch, die Kinder tanzten ihr oft genug auf dem Kopf herum.

Heute sind sich Psychologen einig, dass das Leid an die nächste Generation weitergegeben werden kann. Dann tragen die Kinder der Kriegskinder an der Last der Eltern mit - übernehmen Verantwortung, beschützen ihre Eltern, mehr als für Kinder gut ist. Oft leiden sie selbst unter depressiven Verstimmungen, Beziehungsstörungen und einer ständigen Anspannung. »Ich habe nur ein Bein. Ich kann euch nicht helfen. Ihr müsst euch selbst helfen« - schon früh haben Brunhildes Kinder das gelernt. Die Fünf, heute zwischen 39 und 50 Jahre alt, waren viel auf sich gestellt, passten aufeinander auf, sorgten füreinander und für die Mutter. Als hätte sich die Familie eingeigelt, sich nur auf sich verlassen. Als wäre Nestwärme für Brunhilde Sicherheit genug, die Familie ein Ofen, der sie alle wärmen und beschützen konnte und seine Wärme auch nach außen ausstrahlte. Oft genug erlebten die Kinder in der Schule Vorurteile und Abwertung. »Manche Lehrer haben uns gemobbt«, erzählt Ronald, der zweitälteste Sohn. »Eine hat mir prophezeit, er würde im Gefängnis landen«, fügt seine Mutter hinzu. Fünf Kinder, eine Beinprothese und ein Mann, der nichts taugt. Wie schafft man das? Mit Unterstützung von Familienangehörigen? Fast alle tot. Von staatlicher Seite? »Die haben mir auch nicht helfen können«, sagt Brunhilde.

Es ging, wie es ging. Die Fünf werden größer, streiten sich, wie Geschwister das tun, durchleben Pubertäts-Frust, Abgrenzungs- und Nur-weg-von-zu-Hause-Phasen, der eine mehr, die andere weniger. Doch immer hält die Familie zusammen - bis heute. Die Wohnung am Drosselberg, wo Brunhilde mit ihrem ältesten Sohn Matthias und dem Hund lebt, haben ihre Söhne für sie rollstuhlgerecht eingerichtet, den Fußboden gelegt, tapeziert. Ronald, der Tischler, hat die Küchenmöbel passgenau angefertigt, in Weinrot und Grau. Brunhildes Pflege und die Reinigung der Wohnung übernehmen die Töchter Kerstin und Jeannette. »Ich will nicht ins Heim«, sagt Brunhilde. Auch einen Pflegedienst lässt sie nicht ins Haus. Keine fremden Leute. Da ist sie stur.

Nie hat die Familie etwas für sich beansprucht, eine Bescheidenheit, die für Außenstehende manchmal schwer nachzuvollziehen ist. Zum Beispiel, als Brunhilde im November 2011 wieder ins Krankenhaus musste. Eine Infektion am rechten Fuß, die Stelle hatte sich entzündet und wollte nicht heilen. Der Arzt war sehr direkt: »Das Bein muss ab!« Mit einem Filzstift malte er auf den Fuß, was amputiert werden sollte. »Da habe ich gebläkt«, sagt die alte Frau. »Wie am Spieß.« Drei Mal wird sie operiert. Danach isst sie kaum, spuckt alles wieder aus. Kein Psychologe kümmert sich um sie, kein Sozialdienst. Die Schwestern haben keine Zeit für sie. Nur ein Pfleger hat manchmal ihre Hand gehalten.

Und ihre Kinder und Enkel, die waren ständig um sie herum.

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