Die wilden Pferde vom Nil

  • Pedram Shahyar
  • Lesedauer: 3 Min.

Vor fast genau zwei Jahren, am 17. Dezember 2010, löste die Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi, einem von den Behörden drangsalierten, verzweifelten jungen Mann, in Tunesien eine Revolution aus, deren Wellen nach und nach den gesamten Nahen Osten erfassten. Von Tunis über Kairo, von Bahrain bis nach Daraa in Syrien, selbst bis nach Teheran und Tel Aviv reichte in den folgenden Monaten die Welle des »arabischen Frühlings«. Für »Brot, Freiheit und Würde« gingen Millionen Menschen auf die Straßen, stürzten oder erschütterten die Herrschaftsstrukturen ihrer Länder. Alles Gerede vom Ende der Geschichte entpuppte sich als Lüge: Die Massen waren zurück, und sie machten Geschichte!

Lange bestehende Herrschaftspyramiden wankten und fielen in sich zusammen. Man traute kaum seinen Augen: Auch in Madrid, in Athen und der New Yorker Wallstreet wehte der Wind des Kairoer Tahrir-Platzes. Zum ersten Mal in der modernen Geschichte wurden Formen des Widerstandes aus dem Süden direkt und bewusst im globalen Norden übernommen, gegen die Macht des Kapitals und für wirkliche Demokratie.

Auch wenn jetzt viel »vom arabischen Herbst« geredet wird - vorbei ist diese große Erhebung noch lange nicht. Revolutionen sind keine linearen und berechenbaren Prozesse. Das erlebt man derzeit in Kairo. Niemand weiß, was morgen passiert. Offenheit der Situation ist das Hauptsignum postrevolutionärer Perioden, in denen sich die aktive Menge bisheriger Zwänge entledigt hat. Trotz aller Probleme und Rückschläge: Zumindest in Ägypten, dem politischen Zentrum der arabischen Welt, ist der Wandel der letzten Jahre atemberaubend.

Nach dem Aufstand gegen Husni Mubarak im Januar 2011 erlebten wir im darauffolgenden April die zweite Welle der Revolution gegen den Machtanspruch der Generäle. Wieder war der Tahrir Schauplatz von Demonstrationen und Straßenkämpfen. So gelang es in diesem Jahr dem ersten frei gewählten Präsidenten von den Muslimbrüdern, die Armeeführung von der unmittelbaren Macht zu verdrängen. Beflügelt vom außenpolitischem Erfolg bei der Vermittlung im Gaza-Konflikt, griffen die Islamisten im November dann aber nach der ganzen Macht. Doch sie hatten sich verrechnet. Hunderttausende strömten auf die Straßen. Die dritte Welle der Revolution begann. Die revolutionäre Jugend, immer mehr geprägt von linken und linksliberalen Strömungen, führte viele, sehr unterschiedliche Gruppen zusammen. Zum ersten Mal gelang es ihnen, die Islamisten auf der Straße zu überflügeln. Die wichtige Rolle der Linken dabei blieb in den deutschen Medien bisher völlig unterbelichtet. Ihre Parolen bestimmen die Demonstrationen, der Sozialdemokrat Mohammed al-Baradai und der Linksnasserist Hamdin Sabbahi sind ihre Führungsfiguren.

Noch am fernen Horizont und sehr unscharf - aber in diesen Tagen scheint am Nil das Bolivarianische Projekt auf Arabisch herauf. Die als übermächtig geltenden Islamisten haben sich isoliert. Das ist vielleicht das Großartigste an der ägyptischen Revolution: diese Mentalität, nie wieder - und koste es, was wolle - ein diktatorisches Regime erdulden zu wollen! Die ägyptischen Massen sind nun Vorreiter der großen arabischen Revolution. Sie sind wie ein wildes Pferd, und jeder Reiter, der hier die Zügel zu eng nimmt, wird den Preis mit einigen gebrochenen Knochen bezahlen.

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