Am Anfang war der Mini-Job
Hartz-Reformen kamen schrittweise
Die 15-köpfige Kommission unter Leitung des VW-Arbeitsdirektors Peter Hartz hat im doppelten Sinne Politikgeschichte geschrieben: Sie ist der auffälligste Beweis dafür, dass der Trend hierzulande in Richtung Expertokratie geht. Die demokratische Willensbildung wird zunehmend durch sogenannte Fachleute unterlaufen, die ihr Wissen an die Auftraggeber aus der Politik verkaufen.
Die Hartz-Kommissionäre verliehen sich denn auch selbst den Nimbus des über dem Parteienstreit stehenden objektiven Sachverstandes. Sie versahen alte Konzepte mit neuer Begrifflichkeit: Sich und ihre Kollegen bezeichneten sie als »Profis der Nation«, deren Aufgabe es sei, der Politik verkündungsfertige Blaupausen zu liefern. Und ihr Gutachten teilten sie nicht in Kapitel oder Thesen, sondern in Module ein. Hinzu kam noch ein gewisser Nepotismus - im Schwäbischen nennt man das Vetterleswirtschaft. So kannten sich Hartz und der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) aus gemeinsamen VW-Zeiten.
Schröder selbst wollte sich mit dem Einsetzen der Kommission vom Makel der Untätigkeit angesichts einer rekordverdächtig hohen Arbeitslosenzahl befreien. Seine Agenda 2010 sollte mit Hilfe der »Experten« das Gütesiegel der wissenschaftlichen und ökonomischen Theorie und Praxis erhalten.
Der Kern der im Eiltempo erstellten Empfehlungen: Arbeit muss flexibler werden - um sich den Kapriolen des profitsuchenden Kapitals besser anpassen zu können. Zum Beispiel mittels gelockerter Vorschriften für Leiharbeit oder durch die halbstaatlichen Personal-Service-Agenturen (PSA) Infolge der Konkurrenz durch die aus dem Boden schießenden privaten Leihfirmen blieb die geplante Gemeinnützigkeit bei den PSA aber auf der Strecke.
Auch sollten Existenzgründer aus dem Kreis der Erwerbslosen den Arbeitsmarkt entlasten und die Mittelschicht stärken. Viele Gründer kehrten jedoch in die Erwerbslosigkeit zurück, wenn die Subventionen der Agentur aufgebraucht waren. Der von vielen Anhängern der Schröder-Hartz-Strategie angedachte Sprung von der Ich AG zur Wir AG - selbstverwaltete, kollektive Betriebsgründung nach ethisch-solidarisch-ökologischen Kriterien - gelang nicht. Von der anspruchsvollen Zielsetzung blieb nur die Fusion der kommunalen Sozialhilfe und der bundeseigenen Arbeitslosenhilfe übrig - zum Wohle beider Behörden, aber zum Nachteil der Menschen, denen das Existenzminimum nicht ausreicht.
Das konnte auf Dauer nicht gut gehen, und so begann der Reform zweiter Teil 2005 mit einem drastischen Anstieg der Kosten für die Staatskasse. Das Verdienst der Hartz-Kommissionäre ist es nämlich, die versteckte Armut teilweise aufgedeckt zu haben. Die Zahl der Leistungsberechtigten schnellte in die Höhe - gleichzeitig feierte der föderale Egoismus der einzelnen Gebietskörperschaften fröhliche Urständ. 69 Kommunen erhielten schließlich die Erlaubnis, ein eigenes Arbeitsverwaltungsmodell zu schaffen. Frei nach dem Motto: »Wer ist der bessere Vermittler? Egal, es gibt sowieso keine Jobs!«
Für den Erwerbslosen jedenfalls ist die Bundesagentur der erfahrenere Sachwalter. In der Betreuung »schwieriger« Fälle - Erwerbslose mit psychischen oder sozialen Problemen - hatten kommunale Sozialarbeiter zu Sozialhilfezeiten dagegen überzeugendere Ergebnisse vorzuweisen.
Die Reihe derer, die auf Distanz zur Agenda 2010 nebst ihrer Hartzschen Umsetzung gegangenen sind, ist lang. Dass das »neue« Konzept die klassische Arbeitsmarktpolitik stillschweigend aushebelt, darüber sind sich inzwischen die meisten Beobachter einig. So traten Ein-Euro-Jobs an die Stelle der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM). Während Letztere sich aber auf ein arbeitsrechtliches Vertragsverhältnis mit all seinen Vorteilen gründeten, bringen Ein-Euro-Jobs nur eine bescheidene Aufstockung des sozialrechtlichen Anspruchs mit sich.
Deutschland verzeichnet heute den historisch höchsten Beschäftigungsstand. Das den Agenda-2010-Protagonisten zuzuschreiben, läge jedoch fern jeder Realität. Der Jobaufbau resultiert nämlich in der Hauptsache aus einer im deutschen Sinne erfolgreichen Exportpolitik - deren Kehrseite stagnierende Reallöhne im In- und Schuldenkrisen im Ausland bilden. Hartz I bis IV haben dagegen allenfalls den flexiblen Einsatz von Rand- und Kernbelegschaften erleichtert und damit höchstens das Arbeitskräftepotenzial für diese Expansion ausgeschöpft.
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