Ich erinnere mich noch lebhaft daran, wie ich ihn kennen lernte. Das war in der Linienstraße, dem Altberliner Viertel. Ein Mann hatte mich auf der Straße unvermittelt angesprochen, er kannte meinen Namen und duzte mich. Als er sich mit seinem vollen Namen vorstellte, dachte ich, aha ein Zirkusmensch: Markschiess-van Trix, aber er schob nach: »Du kannst Jonny zu mir sagen.« Ob ich paar Minuten Zeit hätte? Hatte ich nicht, denn ein Zahnarzt erwartete mich. Also ging ich mit Jonny. Die Tordurchfahrt, durch die er mich führte, hatte sich den Charme der Jahrhundertwende bewahrt, und das Gartenhaus, auf das er zusteuerte, sah noch ramponierter aus als das Viertel. Aber was für eine Welt da drinnen! Die Zimmer proppevoll mit Zirkusplakaten, vergilbten Artistenfotos und -Requisiten! Im Halbdunkel lauerte ein Löwe (präpariert), und aus der Wand ragte eine Maske. »Das ist Grock, eine Lebendmaske«, sagte Jonny, »ich kannte ihn, aber das hier ist bloß eine Kopie.« Mann, dachte ich, der große kleine berühmte Clown! Wenn es im Leben eines Menschen Momente gibt, wo er den Wimpernschlag von Geschichte spüren darf - hier war er.
Das gehöre alles ihm, erfuhr ich, doch Jonny wollte es in gute Hände übergeben, möglichst in ein ordentliches Museum, um es dort dauerhaft den Besuchern vorzustellen. Er wollte sogar mit einer Forschungsgruppe die Geschichte des Zirkus und der Artistenwelt schreiben, denn wer weiß , so argumentierte er wie ein Visionär, der ahnt, was Geschichte für das Heute und Morgen eines Gemeinwesens bedeutet, - wer weiß also noch in hundert Jahren, was der große Charly Rivel (das ist der Clown mit dem »Akrobat schöööön!«) oder Clown Popow einem Massenpublikum bedeutet oder der Sozialismus für eine artgerechte, hochprofessionelle Raubtierdressur in die Zirkusgeschichte eingebracht hat? Ich wusste das auch nicht, aber seit ich Jonny Markschiess-van Trix kenne, weiß ich es. Jonny meinte, dass ich doch Theaterhistoriker sei (woher wusste er das?), und Zirkus sei doch vom Theater gar nicht so weit entfernt. Wir müssten etwas tun, sagte er. Tja, bloß was.
Jonny hat es schließlich getan. Er konnte, das war noch in der DDR, seine Sammlung dem Magistrat von Berlin übereignen und dem so überzeugend auf die Nerven gehn, bis der in die Knie ging. Nun hatte die Hauptstadt der DDR ein staatliches Zirkus- und Artistenmuseum mit eigenem Etat und einem halben Bein im Märkischen Museum! Da baute Jonny grad den Kulturpark Treptow mit 20 Millionen Valutamark auf, und etwas später verwandelte sich seine Sammlung sogar in ein ordentliches sozialistisches Planvorhaben. Was dies bedeutete - ein Kulturbau im Plan! (oder war es etwa nicht im Plan? Jonny, ehrlich!) - weiß heute kaum noch jemand. Es war die Revolution selbst! Jonny hatte sich auf so unwiderstehlich sachkundige Weise in das Bauvorhaben, das eigentlich nur Wohnungen vorsah, hineingezwängt und mit den Architekten konspiriert, bis schließlich in der Wall- Ecke Inselstraße ein schmuckes, sehenswertes kleines Museum zur Geschichte des deutschen und internationalen Zirkus entstand, in Augenhöhe mit Wien und Leningrad. Er nannte es »documenta artistica«.
Das Ding hatte nur einen Fehler: Es stand zur Einheit verquer, denn es wurde erst unter den neuen Herren eröffnet und bald danach abgewickelt, einschließlich seines Chefs und Begründers. Die Einweihung des Museums fand noch statt, aber ohne ihn: Man hatte »vergessen«, Jonny einzuladen (er war trotzdem da). So ereilte das Museum das Schicksal aller Dinge, die zum Gut der DDR zählten: Es verschwand (im Rahmen der Stiftung Stadtmuseum) in den wohltemperierten Magazinen im westlichen Teil der Stadt. Gelegentlich wird dies und das hervorgeholt und von den Eventmastern der neueren Bundeskultur präsentiert (und Jonny entdeckt seine Sammlerstücke wieder), - aber Schwamm darüber, sonst wird Jonny ungehalten und zornig. Die Machtübernahme der neuen Herren hat ja nicht nur »sein« Museum, sondern eine ganze Zirkus- und Artistenkultur verschwinden lassen. Jonny könnte erzählen! Allein das tragische Schicksal von Hanno Coldam und Frau Regina mit ihrer weltberühmten Löwendressur im Zirkus Aeros und den schwarzen Panthern (wer kennt nicht den Film!), ist ein schlimmes Kapitel der Wendezeit. Dass Jonny als Trostpflaster das Bundesverdienstkreuz (durch Vorschläge von Museumskollegen aus der Alt-BRD) bekam, ganz in der Stille und ohne Öffentlichkeit, erwähnt er ungern.
Nun wird er also 85. Aufgewachsen ist er in den Arbeiterbezirken im Berliner Osten, in der Singerstraße, dem »Wallnerviertel«, wo es mehr Hunger gab als Brot. Wenn er bei den »Roten Falken« nicht gerade Geld für die IAH, die Internationale Arbeiterhilfe, sammelte, abenteuerten er und seine Freunde durch die Hinterhöfe. Hier eröffnete sich für sie die wundersame Welt der kleinen Zirkusse, der Muskelmänner und Balljongleure, der Clowns, Feuerspucker und Spaßmacher - das Proletariat des großen Zirkus. Jonny wollte wie sie Artist werden, doch sein fehlender arischer Nachweis in Hitlers Diktatur verhinderte das. Die Kristallnacht 1938 war für ihn ein schreckliches Erlebnis, denn er lebte problemlos und freundschaftlich unter den Artisten jüdischer Herkunft. Später, in der DDR, restaurierte er Grabmale der Ermordeten (darunter das des berühmten Jongleurs Samuel Bellachini auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee) und hatte immer gute Beziehungen zur Jüdischen Gemeinde Berlin. Als junger Mann lernte er Mechaniker, reparierte Hochräder und avancierte in Hotels und Revue- und Artistenshows der 30er Jahre zum »Mann für alles«. Er arbeitete als Portier, Bühnenarbeiter, Transporteur verteilte Programmhefte oder klebte Plakate. Er sah den Großen der Branche im damaligen Wintergarten oder Circus Busch zu, wie sie zauberten, jonglierten, durch die Lüfte flogen und durch Können und Tricks verblüfften.
Irgendwann begann er, Plakate, Programmhefte, Fotos, Schriftdokumente und Anekdoten der Zirkus- und Artistikgeschichte zu sammeln, und sein phänomenales Gedächtnis, verbunden mit überbordender Fantasie, vermag noch heute spannende Geschichten daraus zu erzählen. Seit ich ihn kenne, weiß ich über mindestens hundert Jahre der Artistikgeschichte sehr viel mehr. Er kannte die Kolmos, die berühmten Fußjongleure, und den weltweit unerreichten Rastelli, dem wohl größten Fußball-Jongleur aller Zeiten, der gegen jede Fußballmannschaft gewann und noch heute die Brasilianer zum Staunen brächte. Er erklärte mir die Technik der Feuerschlucker aus Peru und weiß, wie man einen Elefanten von der Bühne verschwinden lassen kann (der Erfinder dieses Tricks stammte übrigens aus Hohen-Neuendorf bei Berlin, sein Elefant hieß Toto). Er hat den Nachlass der berühmten Claire Waldorff vor dem Vergessen und Verschwinden bewahrt und berät heute noch Museumsdirektoren, wenn es um Verbürgtes aus der Artistikgeschichte geht. Bei ihm zu Hause treffen sich Söhne und Enkel berühmter Artisten und lassen sich Storys aus ihrer Familiengeschichte erzählen. Dort lernte ich übrigens die erste zersägte Frau kennen, noch bildschön mit ihren über 80 Jahren und gut beisammen. Ruth, Jonnys zierliche Frau, servierte grünen Tee. Ruth hat den Unruhegeist über 60 Jahre tapfer und unbeirrt begleitet, inzwischen hat sie es längst aufgeben, ihn zu bremsen. Sie hat Kostüme für die Großen und die weniger Großen des Zirkus geschneidert. »Schneidern« ist gewiss ein unzutreffender Ausdruck, denn zu ihrer Zeit, wo es noch kein gestyltes Design und keine synthetischen Trikots gab, war man mit Nadel und Zwirn zugleich gestaltender Künstler.
Nein, zu bremsen war Jonny nicht, erst recht nicht, seit es die DDR gab. Er war unübertroffen mit Ideen und rastlos, sie zu verwirklichen. Er kümmerte sich um die soziale Anerkennung des Artistenberufes und begründete die I.A.L., eine Art Artistenloge in der Gewerkschaft Kunst. Er hob 1956 die Artistenschule der DDR mit aus der Taufe, die es ja nun heute als Teil der Staatlichen Ballettschule Berlin-Weißensee gibt und, wie man weiß, noch heute sehr erfolgreich ist. Jonny hatte (und hat) Kontakte zu Museen und Sammlern in aller Welt und gestaltete fast 80 Ausstellungen, was ihm Freunde im In- und Ausland und auch Neider in der Heimat einbrachte. Er sammelte Bücher zur Geschichte der Artistik und des Zirkus und brachte selbst welche heraus. Unvergessen der große Bild- und Textband »Artisten- und Zirkusplakate«, den er mit Bernhard Nowak gestaltete. Er wurde 1986 als bestes Buch ausgezeichnet. Jonnys Arbeitsmotto lautete »Sammeln, Forschen, Weitervermitteln«, und so schrieb er ungezählte Artikel in Zeitschriften und hielt Vorträge, auch vor den Leuten in seinem Kiez, im Gartenhaus. Von einem Erfolg erzählt er besonders gern: Er gewann den damaligen Direktor der Staatsbibliothek, Prof. Dr. Kunze, eine Bibliographie der Publikationen zur Artistenwelt in seinen Katalog aufzunehmen. Sogar eine Ausstellung platzierte er dort!
Ein Unruhe- und Schöpfergeist wie Jonny geriet Zeit seines Lebens in Konflikt mit der Bürokratie, mit Beamten, Funktionären und Gesetzen. Mal setzte er sich durch, mal nicht. Wenn er sich auf seinem Marsch durch die Ämter eine Beule holte, schüttelt er sich und machte weiter. Er kämpft auch heute noch. »85 und kein bisschen leise«, meint er von sich, nimmt seinen Gehstock und macht sich auf den Weg. He, Jonny, setz dich zur Ruhe und spazier mit deiner Frau auf der Fischerinsel! Oder genieße mit ihr die Sonne! Aber Jonny muss zur IG Medien, dort ist Sitzung. Junge, unerfahrene Artisten, sagt er, müssten über Steuerrecht und Vertragsgestaltung aufgeklärt werden, sonst werden sie Opfer von Agenturen und Show-Management. »Der Markt ist grausam.« Hier, bei der IG Medien, gestaltete er auch eine Ausstellung über vom Naziregime verfolgte Artisten. Seine jüngste Idee ist ein Welttreffen der Balljongleure zur Fußballweltmeisterschaft. Manege trifft Fußballfeld, Kollegen treffen Kollegen. Dazu will er André Heller, seinen Freund aus Wien, gewinnen, ein Brief ist unterwegs. Jonny, was willst du noch alles auf die Beine stellen!
Aber manchmal holt er ein kleines vergilbtes Foto aus der Tasche, ein paar Jungs sind zu sehen und ein berühmter Mann. Ich kenne das Bild, er zeigt es gern. »Mit dem Mann hatte ich Zeit meines Lebens Kontakt«, sagt er, »kennst du ihn?« Natürlich kenne ich ihn, und das Foto auch. Es ist Charlie Chaplin vor Berlins wohl berühmtester Destille im Ostteil der Stadt - »Die letzte Instanz«. Aufgenommen wurde es 1931. »Der Junge da neben ihm bin ich, zehn Jahre alt«, sagt Jonny. Damals besuchte Chaplin ein Jugendheim, das sozialen Zwecken diente, und natürlich kannte Jonny den Chaplin längst vom Film. Der gab ihm die Hand, seitdem waren sie Freunde. »Wenn er in Berlin war, trafen wir uns. Geschrieben haben wir uns oft. Er war ein in sozialen Dingen sehr engagierter Mann, was heute kaum noch jemand weiß.« In solchen Momenten kann Jonny ganz still und nachdenklich werden. Wissen über Geschichte, denke ich dann, kann Zuversicht und Hoffnung geben, aber auch verdammt einsam und mutlos machen.
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