Mehr als nur Hugo Chávez
Venezolanische Regierung nutzt den Personenkult
Seit fast eineinhalb Jahrzehnten findet in Venezuela ein tiefgreifender Transformationsprozess statt, der nicht nur das südamerikanische Land verändert hat. Die „Bolivarianische Revolution" hat durchaus auch geopolitische Auswirkungen. Dennoch hat es Präsident Hugo Chávez erst jetzt massiv in die Headlines der internationalen Presse geschafft: Nach der vierten Krebsoperation berichteten auch in Deutschland digitale Leitmedien wie Spiegel Online und tagesschau.de zuletzt täglich über die Erkrankung des 58-Jährigen. Der Fokus auf die Person Chávez folgt der Vorgabe der medienmächtigen Opposition des Landes, die den politischen Prozess mit dem „Comandante" gleichsetzt. Dabei hat sich diese These schon im Fall Kubas als falsch erwiesen.
Besonders in sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook findet ein wahrer Informationskrieg zwischen den politischen Lagern statt. Mehrfach wurde in diesen Foren in den vergangenen Wochen der Tod des linksgerichteten Präsidenten vermeldet. So legten User sogar ein Fake-Account der CNN-Reporterin Carmen Aristegui an, um den vermeintlichen Tod des Präsidenten zu vermelden, eine schlechte Fotomontage des vermeintlich Verstorbenen inklusive. „Der rote Faden ist die Idee, nach der die ‚Bolivarianische Revolution' nach dem Tod von Chávez aufgrund dessen politischen Gewichtes zerfällt", schreibt der argentinische Wissenschaftler und Journalist Juan Manuel Karg, der dieser These entgegentritt. Die Transformation in Venezuela sei längst ein kollektiver Prozess, der sich auf Basisaktivisten in den Kommunalen Räten und Sozialprogrammen stütze.
Man gewinnt dieser Tage den Eindruck, dass die privaten Medien in Venezuela dieser Erkenntnis mit aller Kraft entgegenzutreten versuchen. So berichteten regierungskritische Tageszeitungen in der vergangenen Woche unter Berufung auf spanische Nachrichtenquellen über einen Telefonkontakt zwischen Vizepräsident Nicolás Maduro und der Lateinamerika-Beauftragten des US-Außenministeriums, Roberta S. Jacobson. Dabei sei auch die Rückkehr der US-Drogenbehörde DEA nach Venezuela vereinbart worden. So wurde der Eindruck erweckt, dass die Differenzen mit den USA alleine an Chávez liegen. Wenig später dementierte Maduro. Es habe zwar ein Telefonat gegeben, weil der Präsident eine Annäherung am Washington angestrebt habe. Eine Rückkehr der DEA werde es jedoch nicht geben, entsprechende Berichte seien „Lügen", so Maduro.
Angesichts solcher Berichte übten der Vizepräsident und Informationsminister Ernesto Villegas scharfe Kritik an dem Verhalten privater Medien. In einem Regierungskommuniqué war sogar von „psychologischer Kriegsführung" die Rede. Zugleich riefen Maduro und Villegas die Anhänger der Regierung zur Geschlossenheit auf. Doch das Problem einer politisch motivierten Medienkampagne, die seit Monaten den Tod von Chávez herbeizuschreiben versucht und das Ende der „Bolivarianischen Revolution" vorhersagt, beschränkt sich nicht nur auf Venezuela. Vor allem die rechtskonservative spanische Tageszeitung ABC profilierte sich mehrfach mit fragwürdigen Berichten über den Gesundheitszustand des venezolanischen Revolutionsführers. Das Blatt führte seither mehrere Interviews mit dem venezolanischen Arzt José Rafael Marquina, der im US-Bundesstaat Florida eine „Schlafklinik" betreibt. Seit 2011 hatte der Pulmologe Marquina unter Berufung auf anonyme Quellen mehrfach den Tod von Chávez (und Fidel Castro) vorausgesagt. Mit beidem lag er bislang zwar falsch. Doch die Aufmerksamkeit für Medium und Interviewpartner war gesichert. Als die Zeitung ABC Anfang Januar erneut ohne Quellenangabe über ein „künstliches Koma" berichtete, in das Chávez versetzt worden sei, fand diese Meldung rasend schnell auch in Deutschland Verbreitung, ohne hinterfragt zu werden.
Vor allem bei deutschen Medien rächt sich die mangelnde Sachkompetenz in der Lateinamerika-Berichterstattung. Weil politisch motivierte Berichte mangels Sprach- oder Landeskenntnissen nicht geprüft werden, ist es für oppositionelle Kreise einfach, Themen zu platzieren und Diskurse zu beeinflussen. So wird auch im Fall Venezuelas derzeit eine Medienrealität geschaffen, die mit der Lage vor Ort wenig zu tun hat. Dabei drängen sich die Fragen auf. Wenn der Transformationsprozess in Venezuela alleine von der Figur des Präsidenten abhängig ist, wie dies der bekannteste Oppositionspolitiker Henrique Capriles Radonski dieser Tage erst im Interview mit der spanischen Tageszeitung La Razón behauptete: Weshalb hat sich der Chavismus bei den Regionalwahlen Mitte Dezember in 20 der 23 Bundesstaaten des Landes durchgesetzt – und dies in Abwesenheit des Präsidenten?
Während die mediale Fokussierung auf Hugo Chávez ein authentisches Bild des Geschehens in Venezuela verhindert, treibt die Regierung den Personenkult mit eigenen Zielen voran. Seit Monaten wird der erkrankte Staatschef in einer Kampagne mit Logo, Musik und Fernsehspots als „Corazón del Pueblo" inszeniert, als „Herz des Volkes". Das könnte als Indiz dafür gelten, dass ein Mythos aufgebaut wird, der den Politiker überlebt und weiterhin für den Zusammenhalt der Bewegung sorgt. Gelungen war das vor vier Jahren bereits Fidel Castro, der sich nach seinem Rückzug als „Soldat der Ideen" darstellte, als eine Art geistiger Übervater. In Venezuela hat zu diesem Mythos der Staatschef selbst beigetragen hat, als er in der vergangenen Präsidentschaftskampagne seinen Anhängern zurief: „Nicht ich alleine bin mehr Chávez. Chávez ist ein Volk. Chávez sind Millionen. Auch Du bist Chávez."
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