»Die Parallelstatistik«
ARD-Krimi »Operation Zucker« zeigt Kindesmissbrauch als Normalfall
Manche Taten sind so schwerwiegend, dass Film und Fernsehen sie thematisieren müssen. Vergewaltigung etwa, Kindesmissbrauch, ganz zu schweigen von Mord. Manche Taten sind indes so rar, dass Film und Fernsehen sie sorgsam dosieren sollten: Vergewaltigung etwa, Kindesmissbrauch, ganz zu schweigen von Mord.
Obwohl Gewaltdelikte seit 1993 rückläufig sind, obwohl sich die mediale Präsenz brutalster Übergriffe eher durch mehr Kameras als Ereignisse erklärt, läuft die Fiktion vor Opfern über. Kein Wunder, dass auch »Operation Zucker« von etwas handelt, das seit Beginn der gesamtdeutschen Kriminalstatistik Jahr für Jahr seltener angezeigt wird: Missbrauch Schutzbefohlener. Dabei ist der Film um eine Kommissarin (Nadja Uhl), die - Senta Berger als Staatsanwältin zur Seite - Jagd auf einen Berliner Kinderhändlerring mit Kunden aus den höchsten Kreisen macht, brillant. Bis in die Nebenrollen glänzend besetzt, ist die Geschichte frei von Effekthascherei - wäre sie nicht selber Effekt pur.
So furchtbar jedes Einzelschicksal auch sein mag: Nach BKA-Angaben richteten sich 2011 ganze 0,2 Prozent aller Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung Minderjähriger. Bei Tötungsdelikten liegt die Zahl mit 2174 von sechs Millionen sogar so niedrig, dass hiesige TV-Kommissare mehr Kapitalverbrechen zu lösen scheinen, als die Realität erlaubt. Auf allen Kanälen wird somit eine Stimmung erzeugt, die zum Wohle der Quote nicht bloß Tatsachen verdreht, sondern förmlich neue schafft.
Denn seit private Formate wie »K1« oder »Lenßen & Partner« das Schwerverbrechen vom Abend vor die »Tagesschau« gelotst haben, schreibt der Kriminologe Christian Pfeiffer in seiner Studie »Die Medien, das Böse und wir«, wurde mit dem Sehverhalten die Wahrnehmung verändert. Jene Delikte, die von der Bevölkerung als »sehr bedrohlich oder emotional belastend« empfunden werden, nehmen seit 20 Jahren zwar kontinuierlich ab. Die Menschen aber denken das genaue Gegenteil. Während etwa die Zahl sexuellen Missbrauchs um ein Fünftel sank, tippten 40 Prozent einer Umfrage von 2003 auf massive Steigerungen. Der Kommunikationsforscher George Gerbner erklärt das als »Kultivierung«: das Publikum halte nicht nur die Häufung für real, sondern auch die bevorzugten Tätergruppen im Film.
In »Operation Zucker« sind die Täter Senatoren, Staatsanwälte. Dünnere Bretter bohrt besser nicht, wer ein Publikum umwirbt, das mit Alltagshandlungen immer schwerer erreichbar ist. Es sei denn, da kullern Kinderaugen - als kompensiere die alternde Republik mangelnde Kinderliebe mit televisionärer Überbehütung und fiktionaler Fürsorge.
Um nicht zynisch zu klingen: Die Bebilderung gesellschaftlicher Untiefen ist eine edle Aufgabe verantwortungsvollen Fernsehens. Doch jeder nachgestellte Raubüberfall bei »XY«, das ständige Morden im »Tatort«, der Pädophilie-Overkill wider jede Kriminalstatistik macht den Populismus dahinter sichtbar. Und er wird erst richtig aberwitzig, wenn die FSK das Unhappy End von »Operation Zucker« für Jugendliche bis 16 sperrt, weshalb heute um 20.15 Uhr ein entschärftes Finale läuft. Fernsehrealität ist dehnbar.
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