Schmelzkäse Räucherschinken
Die Grüne Woche und ihr Umfeld sind auch zu einer Messe der Produkt- und Produktionskritik geworden
Die Internationale Grüne Woche ist nicht nur, wie der Berliner Messegeschäftsführer Christian Göke am Mittwoch stolz verkünden konnte, die weltgrößte Agrarmesse, die in diesem Jahr 1630 Aussteller aus 67 Staaten aller Kontinente anzieht, darunter erstmals auch aus Sudan und Kosovo. Die Grüne Woche ist auch eine Leistungsschau des Agrarlobbyismus und der Agrarpolitik - mit jeweils fließenden Übergängen zum Agrargeschäft. Das beginnt damit, dass der Deutsche Bauernverband, die Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie und das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz als »ideelle Träger« der Messe firmieren - und kulminiert in den nach Gökes Worten rund 300 Konferenzen, Tagungen und Seminaren mit »etwa 200 nationalen und internationalen Spitzenpolitikern«, die sich unter den Augen von »5000 Journalisten aus 70 Ländern« um die Messe gruppieren.
Längst nutzen allerdings auch zahlreiche Verbände und Nichtregierungsorganisationen, die den Intentionen der »ideellen Träger« nicht besonders nahestehen, die Grüne Woche als Plattform für politische, lobbyistische und kommerzielle Vorstöße aller Art. Vor einem Jahr etwa kündigte der Deutsche Tierschutzbund während der Grünen Woche ein eigenes Handelssiegel für Fleischprodukte an, das eine tiergerechte Produktion zertifizieren soll. Nun werden tatsächlich die ersten mit dem Tierschutzsiegel versehenen Schnitzel verkauft. Mit der Initiative sollen die Lebensbedingungen von Nutztieren verbessert werden. Anfangs soll es Angebote in einzelnen Regionen geben, etwa im Ruhrgebiet und Süddeutschland, im Norden und in Berlin. Geplant ist danach auch ein bundesweites Angebot bei Discountern, Direktvermarktern und auf Wochenmärkten.
Die Grüne Woche in Berlin gilt mittlerweile als weltgrößte Messe, auf der Hersteller und Vermarkter landwirtschaftliche Erzeugnisse feilbieten. Erstmals fand die Veranstaltung 1926 statt. Längst ist die Grüne Woche eine internationale Schau mit hunderten Ausstellern aus aller Welt.
In diesem Jahr findet die Grüne Woche zum 78. Mal statt. Auf einer Fläche von 115 000 Quadratmetern können Besucher vom 18. bis 27. Januar auf dem Berliner Messegelände unter dem Funkturm landwirtschaftliche Produkte sichten oder kosten. Die Veranstalter rechnen mit insgesamt 420 000 Besuchern, darunter 105 000 Fachbesucher.
Die »Erlebniswelt Heimtiere« ist in Halle 1.2a aufgebaut, der »ElebnisBauernhof« in Halle 3.2. Die Schau »Haus und Garten« findet sich in Halle 11.1, der »proBier-Markt« in Halle 12 und die »Weine der Welt« in Halle 13. Die Halle 16 ist dem Länderschwerpunkt Ukraine gewidmet. Mehr als 300 Foren, Seminare, Kongresse und Ausschusssitzungen sind im Rahmenprogramm der Messe angesetzt. Als Highlight gilt die »5. Internationale Agrarminister-Konferenz«.
Geöffnet ist die Grüne Woche täglich von 10 bis 18 Uhr, an den Samstagen sowie am Freitag kommender Woche bis 20 Uhr. Die Tageskarte für Einzelbesucher kostet 13 Euro, die Familienkarte 26 Euro. Kinder unter sechs Jahren haben freien Eintritt. Kartenkauf im Internet oder an der Tageskasse.
Es gibt keine geführten Touren auf der bisweilen unübersichtlichen Messe, dafür aber mehrere Touren-Vorschläge, die auf der Internetseite »www.gruenewoche.de« zur Verfügung stehen. nd
Am kommenden Dienstag wird Wolfgang Apel, der Ehrenpräsident des Deutschen Tierschutzbundes und Vorsitzender des Bio-Zertifikatsvereins Neuland, im Rahmen der Messe ein neues tierschutzbezogenes Anliegen präsentieren: das sogenannte Zweinutzungshuhn, das sowohl zum Eierlegen als auch als Schlachthähnchen in Frage kommt. Bislang werden alle männlichen Küken der Eierlegerassen, die anders als die Fleischrassen nicht innerhalb von nur einem Monat auf ein Gewicht von anderthalb Kilo gebracht werden, einen Tag nach der Geburt entsorgt.
Nicht alle ethischen, hygienischen oder ökologischen Schwierigkeiten lassen sich freilich durch Zucht beheben. Sehr grundsätzlich sind die Ausführungen des »Bundes ökologische Lebensmittelwirtschaft« (BÖLW), der Spitzenorganisation der Erzeuger, Verarbeiter und Händler im Ökobereich, die am Mittwoch im Messezentrum vorgestellt wurden. In fünf Thesen zur »Ernährungswende« fordert die Ökolobby unter anderem, Pflichtfächer wie Ernährungslehre, Kochen und Hauswirtschaft in Schulen einzuführen sowie die ökologischen und sozialen Produktionsfolgekosten dem jeweiligen Produkt durch eine betriebliche Bilanzierungspflicht zuzuschlagen. Ferner soll gemäß des Papiers, das der BÖLW-Vorsitzende Felix Prinz zu Löwenstein vorstellte, »mittelfristig« der Wirtschaftswachstumsindikator »Bruttoinlandsprodukt« (BIP) durch einen »Nationalen-Wohlfahrts-Indikator« (NWI) ersetzt werden.
Konkreter, unter Nahrungserzeugern aber gleichwohl als »Lebensmittelpranger« gefürchtet, ist das Projekt »Lebensmittelklarheit« des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv). Auf der Internetseite können sich seit 18 Monaten Nahrungsmittelkunden, die sich von der Aufmachung und Verpackung eines Produktes getäuscht sehen, beschweren. Vzbv-Chef Gerd Billen und Projektleiter Hartmut König bilanzierten nun die bisherige Resonanz: Mehr als 6600 Hinweise seien eingegangen, in jedem zweiten Fall könne man nach Prüfung tatsächlich von einer Täuschung des Kunden sprechen. Typische Beispiele für Etikettenschwindel sind die »Hirschwurst«, die nur 40 Prozent Hirsch, aber 60 Prozent Schwein enthält, die Kalorienangaben bei Fertiggerichten, die sich auf eine »Portion« und nicht die ganze Pizza beziehen, ein »Schmelzkäse Räucherschinken«, der tatsächlich keineswegs geräucherten Schinken enthält und nun erfolgreich abgemahnt wurde.
Nicht nur die Verbraucherschützer Billen und König sind zufrieden mit ihrem Projekt - sondern auch Landwirtschafts- und Verbraucherministerin Ilse Aigner (CSU), die in diesem Fall auf beiden Seiten spielt. Vor wenigen Tagen kündigte sie an, die Förderung für »Lebensmittelklarheit« fortzusetzen.
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